Harte Arbeit zahlt sich meistens aus. Und Victor Osimhen hat seit seiner Kindheit schon immer hart gearbeitet. Für ein winziges Handgeld die verstopften Regenrinnen gesäubert oder im stickigen Verkehr kleine Mengen Wasser verkauft. Die Hütten der Nachbarn geputzt oder dem kleinen Tante-Emma-Laden nebenan mit den Einkäufen geholfen.
Osimhen, früher das jüngste Kind einer bettelarmen Großfamilie, heute Stürmerstar der SSC Neapel, ist in Lagos aufgewachsen, Nigerias mit Abstand größte Metropole mit knapp 15 Millionen Einwohnern. Genauer gesagt in der Olusosum Community. Ein Ort, an dem Dächer aus Wellblechen bestehen, Kinder in ausgelatschten Pantoffeln umherrennen und an verrosteten Schanieren hängende Holzbretter als Fenster dienen. Tag für Tag brennt die Sonne vom Himmel und macht jede Wiese zu einem sandigen Acker. Staubige Steinbrocken von aufgestemmten Mauern liegen in den schmalen Gassen der Häuserkluften, Wäscheleinen sind von Fassade zu Fassade gespannt.
"Es gab nichts, das ich genossen habe, als ich aufgewachsen bin. Ich war damit beschäftigt, ums Überleben zu kämpfen", blickt Osimhen in einem vereinseigenen Vorstellungsvideo der Neapolitaner zurück. Seine Mutter starb, da war er sechs, wenig später verlor der Vater seine Arbeit. Jeder in der achtköpfigen Familie suchte nach Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Am Ende des Tages wurde alles auf den Tisch geworfen, gereicht hat es oftmals trotzdem nicht. Als der Landlord kam, um Miete und Gelder einzutreiben, ging Osimhen um die Ecke, weinte und bat Gott um Hilfe.
Er hat es aus dem Slum der Großstadt hinausgeschafft. Mit Talent, Ehrgeiz und Durchsetzungsfähigkeit. Merkmale, die auch sein ernergiegeladenes Spiel kennzeichnen. Vor allem aber waren es seine Entschlossenheit und seine Dickköpfigkeit - so erinnern sich viele alte Weggefährten und Freunde -, die ihm den Ausbruch aus der Armut hin zur Spitze des europäischen Fußballs ermöglicht haben. Es war ein langer Weg, der von außergewöhnlichen Geschichten geprägt ist.
Vom Casting zur U17-Weltmeisterschaft
Zum Beispiel, wie er zusammen mit Tausenden anderen auf der hiesigen Mülldeponie, dessen Gestank bis zu den brüchigen Häusern wehte, nach allem suchte, was irgendwie von Wert sein könnte, um es später zu verscherbeln. Wie er dort auch Fußballschuhe fand, der rechte und linke von unterschiedlichen Herstellern, doch das spielte keine Rolle. Wie er später seinem großen Bruder so lange auf die Nerven ging, bis der ihm endlich das nötige Kleingeld gab, um sich auf dem Markt ein neues, aber gefälschtes Paar zu holen. "Jeder Tag war ein Kampf", sagt Osimhen, der den Kampf mithilfe des Fußballs gewann.
Mit elf Jahren durfte er sich der Synergy Ultimate Strikers Academy anschließen, einer Fußballschule, die Kindern und Jugendlichen eine Möglichkeit bietet, unter anständigen Bedingungen regelmäßig zu kicken und sich den Scouts und Agenten der Welt zu präsentieren. Chinedu Ogbenna ist der Präsident der Akademie, lebte im selben Gebäude wie Osimhen und war mit dessen Vater befreundet. "Seine Entschlossenheit treibt ihn voran", erzählt Ogbenna der südafrikanischen Zeitschrift New Frame, "er läuft vor keiner Herausforderung davon."
Nach einigen Jahren fällt Osimhen, schon früh groß und robust gewachsen, dem Spielervermittler Shira Ayila auf, der ihn zu einem Casting für die U17-Nationalmannschaft Nigerias in die Hauptsadt Abuja mitnimmt. Es ist das erste Mal, dass Osimhen Lagos und seine Familie verlässt.
In einer Vielzahl von jungen Bewerbern sticht er beim Vorspielen heraus, schießt in seiner 15-minütigen Vorstellungszeit zwei Tore. Und überzeugt Trainer Emmanuel Amunike, ihn in die Mannschaft aufzunehmen: "Du konntest sofort sehen, dass er ein Stürmer ist, der Tore schießt und der Mannschaft hilft. Er hatte den Hunger, die Leidenschaft und die Extramotivation, um erfolgreich zu sein. Es war keine schwierige Entscheidung."
Mit 16 Jahren reiste Osimhen mit zum U17 Afrika-Cup 2015. Bei der U17-Weltmeisterschaft in Chile im selben Jahr ging sein Stern auf. Mit zehn Toren in sieben Spielen schoss er Nigeria zum Titel, wurde Torschützenkönig mit einem noch heute bestehenden Torrekord und hinter seinem Kapitän Kelechi Nwakali als zweitbester Spieler des Turniers ausgezeichnet. Scouts und Trainer aus der ganzen Welt standen plötzlich Schlange.
Wolfsburg entpuppt sich als Luftschloss
"Ich habe nach dem Turnier mit Arsene Wenger gesprochen, er wollte, dass ich zu Arsenal komme. Ich hatte viele Optionen. Barcelona, Inter, Atletico, Juventus und noch ein paar andere", erinnert sich Osimhen in einem Portrait der Independent. Seine Wahl aber fiel auf den VfL Wolfsburg, da er dort am ehesten die Aussicht auf Spielzeit und eine positive Entwicklung sah. Eine Fehlentscheidung, wie sich herausstellen sollte.
Der VfL ging eine Partnerschaft mit der Ultimate Striker Academy ein, damit Osimhen schon als 17-Jähriger regelmäßig mit der Profimannschaft trainieren konnte. Zum 1. Januar 2017, drei Tage nach seinem 18. Geburtstag, unterschrieb er dann seinen ersten Profivertrag und Wolfsburg überwies 3,5 Millionen Euro an Ogbennas Nachwuchsakademie.
Wolfsburgs Sportlicher Leiter Olaf Rebbe stach damals zwar massig hochrangige Konkurrenten im Werben um das begehrte Nachwuchstalent aus. Allerdings geschah das in Zusammenarbeit mit Trainer Dieter Hecking. Dessen erfolgreiche Zeit beim VfL endete aber, bevor Osimhen ankam. Und es folgte die panischste Epoche der Vereinsgeschichte mit vier Trainern in anderthalb Jahren. Zwei Mal in Folge würgte sich Wolfsburg trotz des fünfthöchsten Etats der Liga auf den Relegationsplatz und entging nur haarscharf dem Abstieg.
Einsam und verletzt beim chaotischen VfL
Mittendrin ein 18-jähriger Afrikaner, der nicht nur die sportlichen Turbulenzen eines finanzstarken Vereins hautnah erlebte, sondern auch fernab der Heimat einen kompletten Kulturschock. "Als ich in Wolfsburg ankam, war das Essen, die Art, wie die Leute mit mir redeten, die Sprache, das Wetter und alles andere ganz anders, als das, was ich aus Nigeria gewohnt war", erzählt Osimhen Sport1. Dazu war er allein, sein Vater und einer seiner Brüder, die ihn zunächst begleitet hatten, kehrten zurück in die Heimat: "Ich kam nach dem Training nach Hause und niemand war da. Es war einsam.“
Körperliche Probleme machten den Fehlstart in den professionellen Fußball im negativen Sinne perfekt. Schon bei seiner Ankunft in Wolfsburg war sein Meniskus kaputt, er musste mehrfach operiert werden, kam erst vier Monate später am vorletzten Spieltag zu seinem Profidebüt. Am Ende seiner Zeit in der Autostadt hatte Osimhen magere 16 (Kurz-)Einsätze ohne Torbeteiligung oder Einfluss auf die Mannschaft gesammelt.
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Eine Leihe als Wendepunkt
Und die Pechsträhne ging weiter. Im Sommer 2018 infizierte sich Osimhen bei einem Heimatbesuch mit Malaria, war vier Wochen lang krank und verlor jedwede Kraft, die für sein Spiel so bitter nötig ist. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland musste er zwei Wochen in Quarantäne, erst dann durfte er zurück zur Mannschaft und hatte den Anschluss, der ohnehin gering war, vollends verloren. Verein und Spieler einigten sich auf eine Leihe.
Doch mit dem SV Zulte Waragem und Brügge lehnten ihn selbst zwei belgische Vereine ab, die seinem eigentlichen Stellenwert nicht entsprachen. Beide Male waren die Bedenken aufgrund der Malaria-Infektion und der mangelnden Fitness zu hoch. "Nachdem ich von diesen beiden Vereinen abgelehnt wurde, fühlte ich mich so betrübt, dass ich sehr traurig nach Wolfsburg zurückkehrte", erinnert sich Osimhen. Die Abweisungen sorgten dafür, dass er den Ort seiner Wende beinahe verpasste. Denn sein Berater schlug ihm kurze Zeit später einen dritten belgischen Erstligisten vor. Doch Osimhens Skepsis war nun grundlegend und entsprechend auch gegenüber der RSC Charleroi hoch: "Wegen meiner letzten beiden Erfahrungen in Belgien sagte ich ihm, dass ich nicht dorthin wechseln würde. Er überredete mich aber und ich willigte schließlich ein."
In einem unscheinbaren Verein einer höchstens durchschnittlichen Liga, aber einem gefestigten Umfeld schoss Osimhen 20 Tore in 36 Einsätzen und holte sich seinen Torinstinkt und seine positive Energie zurück, die ihn als Nachwuchsspieler so wertvoll und begehrt gemacht hatten. "Die Liebe und Akzeptanz, die ich in Charleroi erfahren habe, haben sehr geholfen. Ich kam gerade aus einer schwierigen Situation und mein Selbstvertrauen war am Tiefpunkt angelangt", sagt Osimhen.
Nach der erfolgreichen Saison zog Charleroi die Kaufoption in Höhe von 3,5 Millionen Euro und verkaufte Osimhen ein paar Tage später als Nachfolger für den zum FC Arsenal gewechselten Nicolas Pepe nach Lille weiter. 22 Millionen Euro zahlten die Franzosen für den Stürmer und spätestens jetzt fassten sie sich in Wolfsburg an den Kopf. Erst recht, als er eine weitere erfolgreiche Saison später für 80 Millonen Euro zur SSC Neapel wechselte. "Man will als Verein nie Teil von solchen Entwicklungen sein, aber dagegen ist man nie gefeit", sagt Rebbe-Nachfolger Jörg Schmadtke.
Wer ist Didier Drogba?
In seinem zweiten Jahr bei der Partenopei ist Osimhen der wertvollste Profi. Napoli hat das Team nach einer durchwachsenen Saison 2020/2021 zusammengehalten, wirkt in diesem Jahr gefestigt und reif. In einer Liga, in der Juventus das zweite Jahr in Folge strauchelt, ist die Spitze eng zusammengerückt. Mittendrin die SSC Neapel, die zu den Meisterschaftsanwärtern gehört und den ersten Scudetto seit Diego Maradonna 1990 holen könnte. Diesmal mit Osimhen als Speerspitze, die kontinuierlich trifft und die Gegner mit seiner Geschwindigkeit, Vertikalität und Durchsetzungsfähigkeit vor Probleme stellt.
"Es ist okay, wenn Leute dich abschreiben, aber du selbst darfst nie den Glauben an dich verlieren", sagt Osimhen, dessen Traum es ist, eines Tages Afrikas Fußballer des Jahres zu werden. So wie einst sein Idol Didier Drogba. Den kannte er gar nicht, bis ein Zuschauer ihn darauf ansprach, dass Osimhen ihn an den ivorischen Kultstürmer erinnere und er sich ihn mal auf Youtube ansehen solle: "Das war der Zeitpunkt, an dem ich mich in ihn verliebt habe. Seitdem will ich als Spieler und Mensch so sein wie er."
Sein größtes Ziel hat Osimhen aber schon jetzt erreicht. "Der größte Erfolg war es", sagt er, "meine Familie aus dem Slum zu holen und ihnen das Leben zu geben, das sie verdienen."