Es ist eine alte Regel im Boxgeschäft, aber sie gilt: Als Boxer bist du immer nur so groß wie die Gegner, die du schlägst. Schwergewichts-Weltmeister Anthony Joshua steigt am Samstag in London zur Titelverteidigung gegen den Bulgaren Kubrat Pulev in den Ring (Samstag, live auf DAZN ). Aber alle Welt fiebert auch schon einem möglichen Megakampf gegen Tyson Fury entgegen.
Wer ganz nach oben will, muss sich mit den Allerbesten messen – im Kampf wie auch im Training. Im Camp Joshua in Sheffield hat in den letzten Wochen ein Deutscher eine wichtige Nebenrolle gespielt: Der Hamburger Peter Kadiru ist vor dem Pulev-Fight über sechs Wochen lang Joshuas Sparringspartner gewesen. Mit 1,94 Metern und 108 Kilogramm hat der deutsche Meister nicht nur Pulevs Statur, sondern auch genügend Qualität, um den Champ zu fordern. Im Gym jedenfalls.
"Joshua will keinen, der mit ihm kuschelt", sagt Kadiru im DAZN -Gespräch zu den gestellten Anforderungen. "Und ich habe ihm gute Einheiten geliefert." Kadiru ist stolz. Für zwei Wochen war der 23-Jährige anfangs gebucht. Daraus wurden anderthalb Monate. Selbst in der Kampfwoche ist er noch an Joshuas Seite. Seinen Respekt vor dem Champ haben ihm Joshuas Leute gleich am Anfang ausgeredet: "Mach dein Ding", haben sie ihm gesagt, "versuch ihn zu verprügeln!" Kadiru lacht.
Kadiru auf den Spuren von Holmes
Immer schon haben die Weltmeister sich große Talente ins Camp geholt, um optimal für die großen Kämpfe zu trainieren. Der junge Larry Holmes machte einst Muhammad Ali für den Rumble in the Jungle gegen George Foreman fit. Jahre später schlug Holmes den alternden Ali dann klar im Titelkampf. Wurde selbst zum Champion. Ein Weg, den auch Kadiru gehen kann? Mal sehen.
Als Amateur und Junior hat er fast alles gewonnen, EM-Titel, WM-Silber und 2014 olympisches Gold bei den Jugendspielen in China. Seit zwei Jahren ist er nun Profiboxer. Und hat im Coronajahr 2020 in vier Kämpfen gleich zwei Gürtel gewonnen: den Youth Title der WBC im Januar und im Oktober die deutsche Meisterschaft. Und jetzt, als Belohnung sozusagen: Praxisunterricht beim Weltmeister.
"Ich wollte unbedingt wissen: Wie stark ist ein Weltmeister?“, sagt Kadiru. Bis zu acht Runden am Tag stand er mit Joshua im Ring. Und? "In Joshuas Haken ist richtig Power drin", sagt Kadiru. "Er hat einen unglaublichen Aufwärtshaken." Den hat schon Wladimir Klitschko zu spüren bekommen. Kadirus Prognose ist klar: "Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er Pulev schlagen wird. Für den wird es am Samstag richtig schwer."
Kadiru über AJ: "Habe ich so noch nie gesehen"
Nach insgesamt gut 50 Runden mit dem Weltmeister weiß Kadiru jetzt, wo er steht: "Ich habe gemerkt, dass ich noch mehr machen muss, um da hinzukommen, wo er jetzt ist", gibt er zu. Und zeigt sich beeindruckt vom Programm, mit dem Champion Joshua täglich an seiner Fitness arbeitet: "Zusätzlich zu den Runden im Ring auch noch hartes Krafttraining, viele Runden an den Pratzen. Er widmet selbst dem Warm-Up sehr viel Zeit. Das habe ich so noch nie gesehen." Das Aufwärmen alleine kann bei AJ schon mal 45 Minuten dauern.
Bei allem Talent und dem nötigen Biss im Ring, den Kadiru schon gezeigt hat – als Trainingsweltmeister ist er bislang eher nicht verschrien. Weiß er selber. Das Airbike, das sein Fitnesscoach so liebt, nennt er nur „Höllenmaschine“. Und sein Manager Bernd Bönte sagt über ihn Sätze wie diesen: „Peter hat verstanden, dass er nicht nur eine gute Technik, sondern auch eine gute Fitness braucht.“ Die Botschaft ist klar. Da muss noch mehr kommen.
Von den Großen lernen, heißt auch: trainieren lernen. Noch so eine Boxerweisheit. Nicht im Ring werden die Kämpfe entschieden, sondern in den Monaten davor. Im Gym, auf der Straße, bei den ewigen Läufen und stupiden Konditionseinheiten. Da werden Champions gemacht. Wer Anthony Joshuas definierten Körper sieht, kann nur erahnen, wie viel Schufterei dahinter steckt.
Kadiru muss da erst noch hinkommen. Er sagt die richtigen Sätze, "brauche Zeit", "will nichts überstürzen", Sätze, die Manager und Promoter gerne hören. Sie sprechen für einen klaren Kopf und einen vernünftigen Jungen. Für einen, der nicht gleich durchdreht. Den man gut positionieren kann.
"Will, dass sie stolz auf ihren Papa ist"
Kadiru ist als Sohn ghanaischer Eltern mit drei Brüdern in einer kleinen Wohnung in Hamburg-Altona aufgewachsen. Er haut sein Geld nicht raus wie so viele Boxer, sondern will mit seinen bescheidenen Börsen lieber die Familie unterstützen. Seiner Mutter ist er dankbar. Seit zwei Jahren ist Kadiru selbst junger Vater. Die kleine Nila ist so etwas wie der weiche Punkt des Boxers.
Als seine Tochter geboren wurde, hat er geweint, das gibt er gerne zu. Und seither will er auch für Nila kämpfen. Vom Boxen leben, seine Familie ernähren. Das ist es. "Ich will, dass sie stolz ist auf ihren Papa", sagt Kadiru. "Will ein Fundament schaffen für sie."
Schöner Nebeneffekt: Kinder halten einen auch am Boden. Das hilft beim Hype, der heutzutage selbst um Local Heroes wie Kadiru gemacht wird. Ständig will einer was, ein Foto, ein Video. "Viele sagen, du bist der Beste, du bist der Tollste", sagt Kadiru. "Dann kommst du nach Hause und deine Tochter interessiert das alles nicht. Die weiß davon gar nichts."
Und wenn man ihn so reden hört, ruhig, mit leichtem hanseatischen Einschlag, dann wirkt es so, als wäre ihm anderswo das schon gelungen, was er als Boxer noch schaffen muss: erwachsen zu werden.
Kadiru klopft keine Sprüche wie so viele seiner Idole. Er ist kein Tyson oder Ali. Er erinnert mit seiner Art eher an die Klitschko-Brüder. Keep calm and knock out … Aber sein großes Ziel, das formuliert er trotzdem ganz klar, ohne Scheu: Schwergewichtsweltmeister werden. Als deutscher Meister steht er ja jetzt schon in der Tradition von Namen wie Axel Schulz, Jürgen Blin, Max Schmeling.
Aber es ist auch wahr, dass es seit dem großen Schmeling vor bald 90 Jahren kein einziger Deutscher mehr geschafft hat, den Schwergewichtstitel zu holen. Axel Schulz war vor 25 Jahren gegen George Foreman immerhin nur ein Skandalurteil davon entfernt. Auch schon eine Weile her.
Heavyweight Champion Peter Kadiru? Es wäre eine ganz besondere Geschichte. Auch deshalb sind sie an ihm interessiert, Manager Bönte zum Beispiel, der mit den Klitschkos jahrelang die Szene dominiert hat. Mehr noch als Sportler sind Boxer ja eine Erzählung. Eine gute Story. Darüber werden sie verkauft. Tyson Fury ist der wilde König, der ungeschliffene, aber rechtschaffene Anti-Establishment-Typ. Anthony Joshua der bescheidene Modellathlet, der sich ganz nach oben gearbeitet hat. Und einer wie Kadiru steht für eine ganz neue Gesellschaft. Da tut sich ein völlig neues Bild vom Schmeling-Land auf. Ein Champion Kadiru, das wäre ein Boateng für den Boxsport.
Im Ring selber spielt es kaum eine Rolle, woher einer kommt. Das Boxen ist farbenblind. Da draußen aber sieht es noch ein bisschen anders aus. Die Ghanaer sähen in ihm meist den Deutschen, hat Kadiru festgestellt, die Deutschen dagegen nicht selten nur den Afrikaner. "Sie sehen oft meine Hautfarbe und fragen dann, woher ich komme. Weil einige immer noch Klischees im Kopf haben und denken, dass alle Deutschen weiß sind."
"Wir müssen uns einig sein, dass Schwarze genauso viel wert sind wie alle anderen"
Kadiru solidarisiert sich online mit Black Lives Matter und trägt ganz bewusst bei seinen Kämpfen die Hose, die Muhammad Ali berühmt gemacht hat: ganz in weiß mit schwarzen Seitenstreifen und schwarzem Bund. Sie ist sein Tribute, sein Andenken an den Mann, der die Figur des stolzen schwarzen Kämpfers ganz alleine zu einer weltweiten Ikone gemacht hat. 50 Jahre ist das jetzt her.
Zeiten ändern sich, sicher. Aber geht es schnell genug? "Zu Alis Zeit war die Rassentrennung ja noch viel härter", sagt Kadiru. "Heute ist es einfacher für uns, so etwas zu sagen und zu posten wie 'Black Lives Matter', auch wenn das immer noch einige missverstehen wollen. Ja, klar, alle Leben zählen, aber erst müssen wir uns einig sein, dass Schwarze genauso viel wert sind wie alle anderen. Das ist immer noch nicht selbstverständlich."
Es ist noch ein weiter Weg. In der Gesellschaft und im Ring. Kadiru weiß das. Die größte Marke im deutschen Schwergewicht ist auch im Jahr 2020 noch Axel Schulz. Der postet Kadiru immerhin schon fleißig Daumen-Hoch-Hände unter seine Instagram-Beiträge. 5.000 Follower hat Kadiru dort. "Könnte mehr sein", sagt er knapp. Altmeister Schulz hat fünf Mal so viele. Und posiert mit Sponsorenkappen und seinen eigenen Produktlinien. Einen Sponsor hat Kadiru noch nicht. Aber er will auch mal eine Marke werden. Marken haben Bedeutung. Aufmerksamkeit. Sie werden gehört.
Noch stehen andere im Mittelpunkt. Am Samstagabend sind es Anthony Joshua und Kubrat Pulev. Kadiru wird in Wembley mit dabei sein. Der Lohn für sechs einsame Wochen im englischen Lockdown weit weg von der Familie. Er freut sich auf die Feiertage mit seiner Tochter. Und will am liebsten schon 2021 den Fight sehen, auf den alle warten: Joshua vs. Fury.
Anthony Joshua vs. Kubrat Pulev: Alle Infos
- Hauptkampf : Anthony Joshua vs. Kubrat Pulev
- Datum : Samstag, 12. Dezember 2020
- Übertragungsbeginn : 19:00 Uhr
- Beginn Hauptkampf : 23:00 Uhr
- Ort : O2 Arena (London)
- LIVE-STREAM : DAZN
Gewichtsklasse | Kampf | |
---|---|---|
Schwergewicht (ab 90,72 kg) | Anthony Joshua vs. Kubrat Pulev | WBA (Super)/IBF/WBO/IBO-Weltmeisterschaft |
Cruisergewicht (bis 90,72 kg) | Lawrence Okolie vs. Krzysztof Glowacki | Vakante WBO-Weltmeisterschaft |
Schwergewicht (ab 90,72 kg) | Hughie Fury vs. Mariusz Wach | - |
Schwergewicht (ab 90,72 kg) | Martin Bakole vs. Sergey Kuzmin | Vakanter WBC-International-Titel |