Ein Champion, der eigentlich nie wieder boxen wollte, es sei denn, man böte ihm eine halbe Milliarde an, fordert den letzten verbliebenen, anderen Champions heraus, der aber 2022 nicht mehr kämpfen will. Ein zweifach verprügelter Ex-Champion soll als Ersatz herhalten, er wartet erst zehn Tage auf einen Vertrag und schafft es dann nicht, ihn rechtzeitig zu unterschreiben. Also öffnet sich die Tür für einen Ersatz des Ersatzes, der nun gegen den Champion, der eigentlich nie wieder boxen wollte, unverhofft eine Chance fürs Leben bekommen soll.
Das Schwergewichtsboxen, diese geschichtsträchtige, altehrwürdige Königsklasse des Boxsports, es verkommt zurzeit zur Zirkusnummer.
In den Hauptrollen: WBC-Champion Tyson Fury, der zwischen boxerischer Weltklasse und psychischem Irrsinn wandelnde. Anthony Joshua, der geprügelte Hund und offenbar still vor sich hin trauernde Ex-Champion. Und Mahmoud Charr, der eigentlich schon längst in der Versenkung verschwundene. Es ist ein Schauspiel, das selbst für Box-Verhältnisse seinesgleichen sucht.
Joshua lässt Frist verstreichen
Oleksandr Usyk, Champion der IBF, WBA, WBO und IBO und offenbar der einzige im Geschäft, der es gerade schafft, klare Ansagen zu machen und sich daran zu halten, ist nach seinem zweiten eindrucksvollen Triumph gegen Joshua im August auf Furys Provokationen nicht eingegangen und hat schnell klargemacht, dass er 2022 nicht mehr in den Ring steigen wird.
Also schwor Fury kurzerhand und eigenmächtig den "Battle of Britain" herauf und forderte AJ. Nicht mit seriösen Anfragen oder Vertragsverhandlungen hinter verschlossenen Türen, sondern laut polternd und schimpfend über die sozialen Netzwerke. AJ, der Gescheiterte, ging drauf ein, nach mündlicher Einigung schien ein großer Kampf bevorzustehen, schon am 3. Dezember sollte es so weit sein.
Doch dann passierte - nichts. Fury polterte und schimpfte in seinen Kanälen weiter, forderte Tempo und setzte dem AJ-Lager eine Frist, um die nötigen Papiere zu unterschreiben und den "Battle of Britain" vertraglich zu fixieren. "Es gibt noch so viel zu tun", sagte aber Promoter Eddie Hearn zu Seconds Out, "bis so ein Kampf steht, dauert es. Wir haben zehn Tage auf den Vertrag gewartet und plötzlich will er ihn innerhalb von 24 Stunden unterschrieben zurückhaben. Keine Chance!"
Charr wittert seine Chance
Die Frist verstreicht also, und am frühen Montagabend lässt Fury den Fight mit AJ platzen. Via Social Media verkündet er, schimpfend und polternd: "Es ist Montag nach 17 Uhr, es wurde kein Vertrag unterschrieben. Für Joshua ist es offiziell vorbei." Und damit Vorhang auf für Mahmoud Charr. Der steht nämlich kurzerhand als Ersatz bereit und soll nun an AJ's Stelle am 3. Dezember gegen Fury in den Ring steigen. "In Manchester oder Cardiff", heißt es. Dass Fury eigentlich zurückgetreten ist, keiner fragt mehr danach.
Charr wittert seine Chance auf Ruhm und Reichtum. "Die Chance ist sehr groß. Andy Warhol hat gesagt: Jeder Mensch hat 15 Minuten in seinem Leben, um weltberühmt zu werden. Das sind meine 15 Minuten. In vier Runden werde ich Tyson Fury ausknocken", sagte der Wahl-Kölner, der vielen noch unter dem Namen Manuel Charr bekannt sein dürfte, im Interview mit dem SID .
Charr ist ein nicht minder streitbarer Profiboxer, der einerseits eine bewegende Lebensgeschichte mitbringt und großartige Qualitäten im Ring bewiesen hat, sich 2017 gegen Alexander Ustinow sogar zum WBA-Weltmeister krönte, andererseits aber auch massenhaft Randgeschichten über Schießereien, künstliche Hüften oder nicht vorhandene Pässe in seiner Vita stehen hat. Der aber, und das ist das Elementare, zwischen 2017 und 2021 überhaupt nicht geboxt hat und somit seit seinem WM-Coup 2017 nichts mehr mit der Weltspitze im Schwergewichtsboxen zu tun hat.
Viele offene Fragen
Charr ist jetzt 37 Jahre alt und stieg 2021 wieder in den Ring, gewann immerhin die zwei Kämpfe seitdem gegen Christopher Lovejoy und Nikola Milacic. Warum ausgerechnet er nun den Fight gegen den ungeschlagenen und eigentlich zurückgetretenen Champion Fury bekommt und welches Interesse Fury an diesem Setup hat, darf trotzdem hinterfragt werden. "Fury will gegen Charr kämpfen, das ist ziemlich offensichtlich. Wenn die Öffentlichkeit das anders sieht, dann hat sie offenbar keine Ahnung", sagt ein angesäuerter Hearn, von dessen Schützling selbst übrigens nach wie vor kein Wort zu hören ist.
Es bleiben viele offene Fragen. Inwiefern ein Fight zwischen Fury und Charr am 3. Dezember nun tatsächlich vertraglich fixiert ist? Unbekannt. Ob das AJ-Lager die "alten" Verträge nach wie vor prüft und auf einen sportlich sicher interssanten "Battle of Britain" hinarbeitet? Möglich. Dass sich Fury, schimpfend und polternd, wieder auf seinen Rücktritt besinnt? Unvorhersehbar. Ob der Boxsport unter diesem unwürdigen Durcheinander leidet? Wahrscheinlich.