Michel Sablon ist die graue Eminenz des belgischen Fußballs, ein streitbarer Geist, ein Visionär, einige innerhalb des Verbands nennen den 74-Jährigen fast schon ehrfürchtig "Guru".
Sablon war erst Profi und dann Trainer, als rechte Hand des legendären Guy Thys führte er die Nationalmannschaft Belgiens ins WM-Halbfinale 1986, wo Maradonas Argentinien dann eine Nummer zu groß war. Später wurde er Technischer Direktor und verantwortete die Heim-EM im Jahr 2000. Eine gigantische Aufgabe. Das erste Fußball-Großereignis auf belgischem Boden sollte zu einem Fest werden, zu einer Demonstration der Stärke - und endete in einem Fiasko.
Das Ausscheiden bereits nach der Gruppenphase stürzte den belgischen Fußball in eine Sinnkrise. Der Ton im Land wurde aggressiv und hämisch, die alten Probleme der unterschiedlichen Volksgruppen - die Flamen im Norden und die Wallonen im Süden - verschärften auch die Gemengelage in einem Verband, der aufgrund seiner überschaubaren Größe und fehlender finanzieller Mittel auf einen großen internen Zusammenhalt angewiesen ist. Und auf frische, kreative Ideen.
Belgien hat nur rund 480.000 registrierte Fußballspielerinnen und -spieler, die in circa 18.000 Mannschaften aktiv sind. Zum Vergleich: In Deutschland wies der Deutsche Fußball-Bund im letzten Jahr etwas mehr als 1,8 Millionen Spielerinnen und Spieler aus und knapp 130.000 Mannschaften. Und doch schafft es Belgien seit einem Jahrzehnt, den europäischen Spitzenfußball regelmäßig mit neuen Talenten zu versorgen, einen Weltklassespieler nach dem anderen hervorzubringen und sich mit der Nationalmannschaft und der sogenannten Goldenen Generation um Kevin de Bruyne, Thorgan Hazard, Thibaut Courtois oder Romelu Lukaku im Kreis der Top-Nationen zu etablieren.
Sablon: "Es war ziemlich grauenhaft"
Es waren Sablon und einige wenige Mitstreiter, die sich nach der verpatzten Heim-EM an einen Neubeginn wagten. "Das war nicht einfach, eigentlich war es zum Beginn ziemlich grauenhaft", erinnert er sich an die ersten Monate. Es habe fast zwei Jahre gebraucht, bis die ersten Entscheidungsträger bei den großen Klubs "mit im Boot waren". Ein Dominosteinchen nach dem anderen musste erst fallen, um die neuen Konzepte und Ideen nicht nur in die Klubs zu tragen, sondern dort jeweils auch alle wichtigen Protagonisten davon zu überzeugen. "Letztlich hat es fünf, sechs Jahre gedauert, bis wir alle an Bord hatten", so Sablon.
Ein großes Problem war dabei die Abkehr vom belgischen 4-4-2, das im Prinzip überall gelehrt wurde und fast schon einen ähnlich mystischen Status hatte wie die Erfindung der Abseitsfalle, mit der die Belgier Anfang der 80er Jahre ihre Gegner auf Klub- und Verbandsebene verzweifeln ließen. Dass sich Sablon ausgerechnet auf das niederländische 4-3-3 einlassen wollte, die Grundordnung des verhassten Nachbarn, war für viele im Land ein Affront. Für den Baumeister des neuen belgischen Fußballs aber alternativlos.
Sablon formulierte gerne in Bildern und Metaphern, um sein Anliegen möglichst leicht bekömmlich zu verbreiten. Jedenfalls ist das Manuskript, das die Förderstrukturen und die Ausbildungsphilosophie des belgischen Fußballverbands auf 162 PDF-Seiten zusammenfasst, voll davon. Er brach mit den starren Traditionen im Kinder- und Jugendfußball, revolutionierte die Traineraus- und weiterbildung und das Wettbewerbssystem. Dinge, die der DFB in Deutschland erst jetzt, fast 20 Jahre später, auf den Weg bringt.
Der Einzelne steht im Mittelpunkt
Die Belgier haben schon damals alle Bereiche durchleuchtet und keinen Stein auf dem anderen gelassen. Das Eins gegen Eins wurde als Keimzelle des Fußballs ausgemacht, die Übungs- und Spielformen in den Kindermannschaften auf Dribblings und Kreativität ausgelegt, Passschleifen dagegen verbannt. Der Einzelne steht fortan im Mittelpunkt aller Überlegungen, erst danach kommt das Team: Es ist ein fast ausschließlich spielerzentrierter Ansatz. Ergebnisse sind zweit- oder drittrangig und auch die Karrieregedanken der Trainer werden eingebremst.
Funino, das Spiel mit jeweils drei Feldspielern auf je zwei Angriffstore pro Team und ohne Torhüter, wird in Deutschland erst mit der Saison 2024/25 verpflichtend für die jüngsten Jahrgänge eingeführt, aktuell laufen erste Pilotprojekte. In Belgien spielen sie seit mehr als einem Jahrzehnt in unterschiedlich kleinen Gruppen und losgelöst vom Fußball der Erwachsenen: In der U6 wird Zwei gegen Zwei gespielt, in der U7 Drei gegen Drei, ab der U8 Fünf gegen Fünf, ab der U10 Acht gegen Acht und elf Spieler pro Mannschaft sind erst ab der U14 erlaubt.
Die Spielfeldgrößen gehen runter bis auf ein 20x12 Meter kleines Feld in den Zwei-gegen-Zwei-Duellen, taktische Prinzipien werden automatisch in den älteren Jahrgängen eingeschliffen: Das Dreiecksspiel im Drei gegen Drei, die Raute im Vier gegen Vier, die Doppel-Raute im Acht gegen Acht.
Kleinere Mannschaften auf kleineren Spielfeldern führen automatisch zu mehr Ballaktionen der Spieler. Keiner kann sich mehr verstecken, alle sind involviert. Die Wettbewerbsformen wurden im Bereich der oberen Ligen aufgebrochen. Spielern und Mannschaften aus Nachwuchsleistungszentren wird der Druck genommen, weil es keine Absteiger mehr gibt. Dafür gibt es in einigen Klubs garantierte Einsatzzeiten für Spieler bis 16 Jahre. So sichert der KRC Genk in jeder Partie jedem seiner Spieler 70 Prozent der Spielzeit zu.
Der Trainer ist der Schlüssel der Ausbildung
Das Eins-gegen-Eins ist die Keimzelle des Spiels, heißt es im belgischen Konzept. Und der Trainer ist der Schlüssel der Entwicklung vom Talent zum möglichen Profi. Die meisten Klubs, aber vor allen Dingen die jeweiligen Trainer, hätten nur diesen einen Gedanken gehabt: Das nächste Spiel um jeden Preis zu gewinnen. "Aber das war der absolut falsche Ansatz für unsere Spieler. Komplett falsch!", sagt Sablon.
Die Ausbildung wurde auf den Kopf gestellt, das Wording vereinfacht. Auf dem Platz wird seitdem mit klaren Codes oder Coaching-Vokabular gearbeitet. Die Belgier greifen dabei die alte Strategie neu auf, komplexen Handlungsmustern einfache Namen zu geben. So weiß jedes Kind, was es bedeutet, einen "Lahm" zu machen. Philipp Lahms markante Bewegung, erst an der Seitenlinie entlangzugehen, um dann zu stoppen, nach innen zu ziehen und mit dem stärkeren rechten Fuß zu flanken oder aufs Tor zu schießen, hat in Belgien als "Lahm" Einzug gehalten in die Lehrbücher.
In den Lehrplänen ist neben den klassischen Säulen der Trainerausbildung in den Bereichen Technik, Taktik, Kondition und Psychologie längst auch eine fünfte Komponente verankert: "Attitude", also die Einstellung eines Spielers sowie des Trainers. Es geht dabei um Vertrauen und Zuneigung zwischen Trainern und Spielern. Dafür muss sich der Trainer an seine Spieler anpassen. Nur so kann Individualismus gefördert werden.
Die Belgier verzichten auf den "Mannschaftstrainer", vielmehr ist jeder Trainer eine Art Individualtrainer, der sich natürlich um die Belange der Gruppe kümmert. Aber in erster Linie immer der erste Ansprechpartner für jeden Spieler ist, der genau um die inhaltlichen Schwerpunkte in seinem Alterssegment weiß und die Auszubildenden auch als solche behandelt - und nicht wie deutlich zu jung geratene Profis.
"Wir geben ihnen eine Brille, um klarer zu sehen"
"Das einzige, das sich bei uns ändert, ist die Größe unserer Shirts", steht in einem der vielen Schaubilder zur Entwicklung der Spieler von der U15 bis hinauf in die U21. Alles andere bewegt sich innerhalb der definierten Leitplanken. Und es folgt der Idee, dass auch jene, die augenblicklich noch nicht so weit sind oder sein können, irgendwann doch noch den Durchbruch schaffen können. Nicht die Körpergröße oder das Gewicht sind entscheidend, sondern eine saubere Technik, kognitive Fähigkeiten, Wahrnehmungs- und Handlungsschnelligkeit und schlaue Bewegungen auf dem Platz.
Um das zu erkennen, gibt es in Belgien Weiterbildungskurse für Trainer und Scouts. Sie sollen ein Gespür dafür entwickeln, in welchen vor allen Dingen körperlich noch etwas unterentwickelten Spielern noch großes Potenzial schlummert. Diesen neuralgischen Bereich der Talentförderung übersehen immer noch die meisten Nationen. "Als Scout muss man sehen, was diese Jungs abseits des Balles machen, denn sie spielen eher nicht fünf Gegner aus", sagte der Leiter der belgischen Trainerausbildung Kris Van Der Haegen dem Tagesspiegel. "Wir geben ihnen eine Brille, um klarer zu sehen."
Kevin de Bruyne bekam in Genk das Wichtigste überhaupt
So wie das bei Kevin de Bruyne der Fall war. Der war im Kinder- und Jugendalter zwar schon in einigen Bereichen sehr auffällig, besonders De Bruynes Geschwindigkeit mit dem Ball am Fuß und seine Positionierung im Raum waren immer wieder mit höchsten Maßstäben notiert. Aber mit 14, 15 Jahren wuchs der Spieler nur noch in die Höhe. De Bruyne hatte Probleme mit der Körperlichkeit und Robustheit seiner Gegenspieler, dazu kamen Schwierigkeiten mit seiner Gastfamilie, als er in Genk im Nachwuchsleistungszentrum trainierte.
De Brunye erlebte einen echten Hänger, auf und abseits des Platzes. Viele wären wohl in der breiten Masse verschwunden, wären früher oder später ausgetauscht worden und hätten dann dem Fußball den Rücken komplett gekehrt. Diese Drop-out-Quote so gering wie möglich zu halten, ist ein überragendes Ziel der belgischen Förderstruktur. Das hat einen Spieler wie De Bruyne auf Kurs gehalten.
Weil sie in Genk, ganz im Sinne des Verbandsweges, auf fest definierte Quoten ihrer Grasroots-Spieler setzen, kam De Bruyne mit 17 Jahren schon in Kontakt mit Herrenfußball. Genk will immer mindestens acht Spieler aus der eigenen Akademie im Lizenzspielerkader haben. Das in der Breite eher überschaubare Niveau der Jupiler League ermöglicht es diesen Nachwuchskickern dann auch, die entsprechenden Spielminuten zu sammeln und den schwierigen Übergang vom Jugend- in den Profibereich so fließend wie möglich zu gestalten. Kevin De Bruyne war 20 Jahre jung, als er von Genk zum großen FC Chelsea transferiert wurde. Damals hatte er aber schon 96 Pflichtspiele für Genk absolviert.
De Bruyne, seine heutigen Champions-League-Gegner Courtois und Hazard oder Lukaku: Das sind die Speerspitzen des belgischen Fußballs, die Kinder der Revolution. Die Entwicklung verlief dabei nicht immer rasant oder nur bergauf, im Jahr 2009 war Belgien noch die Nummer 66 der Weltrangliste, eingerahmt von Mazedonien und Marokko und noch hinter fußballerischen Entwicklungsländern wie Benin, Gabun oder Saudi-Arabien. Im Herbst 2018 eroberten die Roten Teufel dann aber Platz eins und hielten diese Position bis vor wenigen Wochen. Nur Rekord-Weltmeister Brasilien ist nun - zumindest offiziell - noch einen Hauch besser.