Diese Podcast-Folge wird Ihnen präsentiert vom aktuellen Schiedsrichter des Jahres! Deniz Aytekin ist mal wieder bei kicker meets DAZN - der Fußball Podcast zu Gast und spricht in Episode 135 über sein 200. Bundesliga-Spiel, seinen freiwilligen Rückzug aus dem internationalen Fußball und besondere Kniffe, um während des Spiels auf dem Feld zu verschleiern, dass gerade ein VAR-Check läuft (legendäre Anekdote!).
Dazu gibt’s als geschmeidigen Service für Euch die wichtigsten Regel- und Auslegungsänderungen zur neuen Saison. Außerdem besprechen Alex und Benni alles Wichtige zum abgelaufenen zweiten Spieltag der Bundesliga und schalten zum kicker-England-Experten Thomas Böker, der die Misere bei Manchester United und den legendären Londoner Handschlag der Woche zwischen Tuchel und Conte erklärt.
Zu hören ist diese Folge wie immer auf Abruf überall, wo es Podcasts gibt!
Deniz Aytekin bei kicker meets DAZN exklusiv über …
… sein Jubiläum beim Bundesliga-Eröffnungsspiel und das anschließende Interview bei DAZN
"Ich habe 200 Bundesligaspiele gebraucht, um so ein Interview zu haben. Es war etwas ganz Außergewöhnliches und hat mich total gefreut, dass wir nicht nur nach außen gerufen werden, um eine strittige Situation oder eine mögliche Fehlentscheidung zu erklären. Aber natürlich auch das Spiel selbst: Wenn mir 2008 jemand gesagt hätte, dass ich 200 Bundesligaspiele erleben werde als Aktiver, dann hätte ich sofort unterschrieben. Es war etwas Besonderes: die Atmosphäre, Eröffnungsspiel, diese große Bühne – das nimmt man gerne mit."
… seinen Einsatz bei Frankfurt gegen Bayern
"Du musst dich anpassen. Nicht nur an die einzelnen Spieler, sondern auch an die Spielsysteme und die Geschwindigkeit. Das klingt vielleicht doof, aber ich habe mich am Freitag das erste Mal so gefühlt - kennt ihr das, wenn man in eine Disco geht, dann stehst du da drin und denkst dir: 'Ey, hier sind aber ganz schön junge Leute'? Das war wirklich krass. Ich war auf diesem Platz und dachte mir: 'Fuck Mann, der Musiala!' Der Kerl ist 19 - und wenn der anzieht und nimmt dir auf 80 Meter 60 bis 70 ab, dann denkst du anders über dein Leben nach. Deswegen ist dieses vorausschauende Agieren, einen Matchplan haben, eine Idee haben, wie man so ein Spiel angeht, auch für uns elementar."
… die Vorbereitung auf ein Spiel als Referee
"Ich bereite jedes Spiel, egal ob Bundesliga-, Zweitliga- oder Drittligaspiel, vor. Wir haben diverse Tools, ich habe Zugriff auf alle Spiele und kann mir jede Aktion einzeln ankucken. Ich schaue mir in etwa die letzten zehn Ecken und Tore der Mannschaften an. Weil wenn auffällig ist, dass eine Mannschaft von den letzten zehn Toren acht aus Standards geschossen hat, musst du als Schiedsrichter wissen: Wenn ich einen Freistoß oder Eckball da hinsetze, dann sollte das im Optimalfall auch richtig sein – weil die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass da ein Tor fällt. […] Man kann sich aber auch überladen mit Informationen. Ich überlege immer: Was sind meine persönlichen Schwächen, wo bin ich nicht so stark? Das ist zum Beispiel das Thema Antritt und die ersten zehn Meter. Mit 1,97 Metern hast du keine Chance, wenn so ein junger Kerl antritt, kommst du kaum hinterher. Das heißt: Ich beschäftige mich damit, was passiert, wenn eine Mannschaft den Ball erobert. Wer ist der Zielspieler? Wie schalten sie um? Um gedanklich immer einen Schritt voraus zu sein."
… das freiwillige Ende seiner internationalen Laufbahn
"Als internationaler Schiedsrichter gibt es Kategorien. Die höchste ist die Elite Group, mit 28 Schiedsrichtern aus Europa und vier aus Deutschland. Ich war dort eingestuft und eigentlich gehst du da nicht freiwillig raus. Ich war aber zwölf Jahre international tätig und es ist so ein enormer Aufwand mit den Reisen. Man ist immer drei Tage weg und hat kein Privatleben mehr. Du bist unter der Woche weg, kommst am Donnerstag nach Hause, erholst dich halbwegs am Freitag und musst dann schon wieder zu einem Bundesligaspiel. Nach meiner Achillessehnen-OP vor zwei Jahren war es schon mein Ziel, noch einmal auf Champions-League-Niveau zurückzukommen, das habe ich letzte Saison geschafft. Ich habe mich dann gefragt, wo die Reise hingehen soll, weil dieses immer höher, weiter, schneller und immer mehr und noch mehr von mehr – das ist nicht der Treiber bei mir. Und dann habe ich entschieden, meine Zeit anderen Dingen zu widmen. Es ist wirklich eine andere Lebensqualität, wenn du nicht jedes Mal unterwegs bist."
… seine Beweggründe
"Ich habe Roberto Rosetti (UEFA-Schiedsrichterchef, d.Red.) eine sehr lange Videobotschaft geschickt, weil ich ihm aufrichtig das Gefühl vermitteln wollte, dass es mir ernst ist. Dass die Zeit mit der Familie aktuell wertvoller ist und ich denen auch etwas zurückgeben möchte. Weil eins dürfen wir nie vergessen: Das, was wir da machen – und das gilt für alle, die in diesem Business Woche für Woche unterwegs sind – ist ein Stück weit Egoismus und ein extremes Vernachlässigen von Familie und Freunden. Das vergessen die meisten. Es ist ein wunderschöner Moment, auf dieser Bühne zu sein, aber das, was man dafür als Preis zahlen muss, ist Abwesenheit. Mein Sohn ist 15, meine Tochter 20 – die haben große Themen, wo ich als Vater eingreifen muss. Und wenn ich jedes Mal sagen muss "Jetzt bin ich erstmal drei Tage in der Slowakei, dann drei Tage was weiß ich wo" – das ist aus der Ferne schwer zu steuern."
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… die Länge der Entscheidungsfindung beim VAR
"Es fühlt sich extrem lange an, obwohl es nicht so ist. Ich habe mir die Kennzahlen geben lassen, wir sind in Deutschland mit 75 bis 76 Sekunden Review-Time mit die führende Nation. Die anderen brauchen wesentlich – teilweise 15, 20 Sekunden – länger. Ich verstehe aber auch die Leute draußen oder die Spieler: 75 Sekunden im Schnitt fühlen sich an wie eine Ewigkeit. Es gibt auch Momente, in denen ich mir denke: 'Boah, wäre cool, wenn ich jetzt die Info hätte.' Beim Eröffnungsspiel gab es eine Situation, in der Elfmeter ja oder nein gecheckt wurde. Ich hatte Eckball gegeben. Und der Videoassistent meinte: "Ey, warte mal kurz, wir checken gerade, ob ein potenzielles Foul war", was ein Strafstoß gewesen wäre. Ich wollte aber nicht, dass es auffällt, weil ich den Spielfluss und die ganze Atmosphäre nicht gefährden wollte. Dann bin ich zu den Spielern in der Mitte gegangen, die berühren sich ja immer ein bisschen, und habe dem Upamecano gesagt, er soll aufhören. Dann hat der mich entgeistert angekuckt und gesagt: "Ich habe doch gar nix gemacht?" Dann habe ich gesagt: "Ja, ich weiß, aber ich brauche ein bisschen Zeit" – und bin wieder zurück. Und diese Zeitspanne hat mir geholfen, dass – auf gut Deutsch - keine alte Sau gecheckt hat, dass wir was prüfen."
… die von manchen als zu niedrig empfundene Eingriffsschwelle der Videoassistenten
"Die Frage ist, was wichtiger ist: Die für den Fußball richtige Entscheidung, oder dass wir sagen, wir lassen eine Strafraumentscheidung stehen – mit der Gefahr, dass ein Spiel durch einen Elfmeter entschieden wird, der keiner war? Ich kann als aktiver Schiedsrichter nur für mich sprechen: Ich möchte im Optimalfall kein Spiel entscheiden durch einen wackligen Elfmeter, bei dem du dir denkst: Boah, den kannst oder willst du doch nicht geben! Wenn ich einen Elfmeter da hinsetze, ist es ja nicht so, dass ich da entspannt spazieren gehe und mir denke, dass das ein Foul sein könnte. Es passieren so viele Sachen plötzlich, dann hat man eine Wahrnehmung und denkt, dass es ein Foul war. Dann pfeifst du, aber es war deutlich weniger, als du angenommen hast. Da möchte ich als Schiedsrichter lieber den Videoassistenten in Anspruch nehmen und es mir als zweite Chance noch einmal anschauen. Aber auch da gibt's Grenzen, weil sonst stehen wir zwanzigmal da draußen."
… den medial überpräsenten VAR trotz sehr wenig Fehlentscheidungen
"Die Wissenschaftler nennen das Spotlight-Bias. Wenn du ein rotes Auto kaufen willst und gehst nach draußen, siehst du plötzlich überall rote Autos. Es passieren auch mit dem VAR Fehler, die sind dann aber so exponiert und an der ein oder anderen Stelle in wichtigen Spielen passiert, dass die Medienberichterstattung derart groß ist, dass all die Positivität der Einführung des Videobeweises flöten geht. Das finde ich schade, weil wenn man das ganz nüchtern analysieren würde, reden wir letzte Saison von 1600 Überprüfungen und nur 114 Entscheidungen wurden geändert – das muss man sich mal vorstellen! Überwiegend liegen die Jungs und Mädels ja richtig. Die wenigen Szenen, die falsch laufen, sind aber leider die, die Gesprächsstoff beinhalten, die Grauzonen sind. Das haftet an und wir fokussieren uns nur auf diese einzelnen Dinger – und dann sehen wir nur noch rote Autos."