EXKLUSIV
Gerade einmal 17 Tage war die Profikarriere von Giovanni Reyna alt, als er zum ersten Mal erahnen ließ, welches Potenzial in ihm steckt. Es war die 78. Minute im Pokalfight gegen Werder Bremen. 3:1 Rückstand, das Aus im DFB-Pokal vor Augen, eiskaltes Wetter, Auswärtsspiel. Es gibt einfachere Momente, um als 17-Jähriger die ersten Schritte im Profifußball zu gehen, als in einer dieser hektischen Schlussphasen, die nur K.o.-Spiele hervorbringen.
Eine bei denen, der Favorit hinten liegt, alles nach vorne wirft und der Underdog sich mit aller Kraft entgegen stemmt. Doch Reyna schien sich darüber keine Gedanken zu machen. Einige Meter vor dem gegnerischen Strafraum bekam er den Ball von Julian Brandt übergeben. Zwei erfahrene Verteidiger direkt vor ihm. Das Bremer Tor schien in diesem Moment kein bisschen in Gefahr zu sein. Doch fünf Ballberührungen, zwei Sekunden und ein wunderschöner Schlenzer in Richtung Kreuzeck später, stand es 3:2 und Reyna hatte sich als das nächste Dortmunder Wunderkind vorgestellt.
Gut 6.000 Kilometer entfernt, im US-Bundesstaat New York, saß Matt Pilkington vor dem Fernseher und war nicht gerade überrascht: “Ich will nicht sagen, dass ich in diesem Moment genau das von ihm erwartet habe”, sagt der Mann, der ihn bei der Jugendakademie von New York City FC jahrelang trainiert hat, im Gespräch mit DAZN und fügt an: “Aber wenn man täglich im Training und in Spielen genau diese Bewegungen, genau diese Abschlüsse von ihm gesehen hat, dann überrascht einen so ein Tor nicht sonderlich.” Auch nicht beim Profi-Debüt.
Etwas mehr als ein Jahr ist das her. Und seitdem ist viel passiert. Nicht nur, dass solche Pokalfights leider nicht mehr vor Publikum ausgetragen werden und gar nicht mehr diese Dramatik entfalten können. Reyna ist innerhalb dieses Jahres vom talentierten Wunderkind zum wichtigen Bestandteil bei einer europäischen Top-Mannschaft geworden, debütierte bei der US-amerikanischen Nationalmannschaft, spielte sechsmal in der Champions League und steigerte seinen Marktwert auf 38 Millionen Euro.
Pilkington war Reynas letzter Trainer, bevor er aus den USA nach Dortmund wechselte. “Ich versuche, so viele Spiele wie möglich von ihm zu sehen. Die Bundesliga war ja nach der Corona-Pause die erste Liga, die wieder losgegangen ist, also konnte ich wirklich einige von Gios ersten Spiele sehen. Er war großartig”, sagt Pilkington.
Jugendtrainer schwärmt von Reyna: "Sein Mut war beeindruckend"
Dass Reyna das Zeug zum Fußballprofi hat, war eigentlich schon bei seiner Geburt klar. Die Mutter, Danielle Egan, eine US-Nationalspielerin, der Vater Claudio Reyna – Bundesligaspieler und einer der beliebtesten Fußballer in den USA. Selbst Giovannis Name ist eine Hommage an Giovanni van Bronckhorst, einst Teamkollege von Vater Claudio bei den Glasgow Rangers. Doch wie oft zerbrechen Kinder an den übertrieben Erwartungen, die in sie gesetzt werden? Nicht so Reyna. Was auch daran liegt, wie Giovanni von seinem Vater in allen Entscheidungen unterstützt wurde. BVB-Sportdirektor Michael Zorc sagte einmal in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung , Claudio Reyna habe “immer einen klaren und klugen Plan für seinen Sohn im Kopf" gehabt.
Dieser Plan führte Giovanni 2014 auf seinem Weg in Richtung Profifußball an die Akademie von New York City FC, ein Verein aus der City Football Group, bei dem sein Vater damals Sportdirektor war. Matt Pilkington hatte ab 2015 die Aufgabe, den Sohn des Sportdirektors und der Fußballerlegende auf diesen Weg vorzubereiten. “Natürlich ist das eine große Aufgabe, aber Gio war schon damals unglaublich reif, diszipliniert, sehr intelligent – und glücklicherweise sehr, sehr talentiert”, sagt Pilkington lachend. “Das Schwierigste daran, ihn zu trainieren, war, dass wir ständig neue Wege finden mussten, um ihn herauszufordern.”
Für Reyna hieß das, dass er mit 14 zunächst bei der U17-Mannschaft spielte, ein Jahr später dann U19. Die körperlichen Unterschiede, erzählt Pilkington, machte er durch seine gutes Raum- und Spielverständnis wett. “Ich habe ihn bei einem Turnier im Finale gegen die UANL Tigres als Neun eingesetzt. Tigres ist eine körperlich sehr starke Mannschaft – und die Verteidiger waren drei Jahre älter als er. Trotzdem konnten sie ihn nicht aus dem Spiel nehmen. Sein Mut und seine Fähigkeit, die Mannschaft zu führen, waren beeindruckend. Er hat das entscheidende 1:0 geschossen. Er war unser Katalysator”, erzählt Pilkington.
Anekdoten wie diese hat der Jugendtrainer zuhauf. Davon, wie Reyna stets in schwierigen Spielen aufblühte, wie er gegen europäische Mannschaften kurz brauchte, um sich an das ungewohnte Tempo zu gewöhnen, man aber schon während des Spiels beobachten konnte, wie er lernte und sich anpasste. Wie er Rückschläge im Spiel als Motivation nahm und die Mannschaft anführte. Oder davon, wie Reyna ständig nach dem Training noch Sondereinheiten einlegte: “Ich musste ihn schon mal vom Gelände scheuchen, weil er bis spät abends noch Freistöße geübt hatte. Aber ich musste halt leider das Licht ausmachen”, erzählt Pilkington.
Reyna lernte von Legenden wie Pirlo und Lampard
Reyna habe häufig das Training der ersten Mannschaft beobachtet, um von den größten Fußballern der Welt zu lernen, die damals bei NYCFC spielten: Andrea Pirlo, Frank Lampard, David Villa. Irgendwann durfte Reyna schließlich unter Coach Patrick Vieira bei der ersten Mannschaft im Training aushelfen. “Es ist ein familiärer und kleiner Klub. Deswegen gibt es eine enge Verbindung zwischen erster Mannschaft und der Academy”, sagt Pilkington. “Pirlos Pässe, Villas Abschlussstärke, das Timing bei Lampards Laufwegen, ich bin mir sicher, dass er sich von ihnen etwas abgeschaut hat.”
Man muss sich nicht allzu sehr anstrengen, um Facetten dieser großen Stars in Reynas Spiel wiederzufinden. Auf dem Platz wirkt Reyna oft nachdenklich. Mit ernster Miene, die Augenbrauen zusammengezogen, bewegt er sich durch das Spiel, liest die Räume zwischen den Reihen, um durch kluge Läufe sich selbst freizulaufen oder die Aufmerksamkeit von einem anderen Mitspieler abzuziehen. Er wählt gerne die einfach wirkende Lösung einer Situation, statt ohne Not die Eins-gegen-Eins-Situation heraufzubeschwören und extravagante Tricks zu zeigen.
Verglichen damit, wie spektakulär sein Werdegang und seine Fähigkeiten bislang sind, ist es um Reyna noch ziemlich ruhig. Zum einen mag das daran liegen, dass hochbegabte Jungstars in der Startelf mittlerweile genauso ein fester Bestandteil in Dortmund sind, wie der Borsigplatz. Zum anderen liegt es daran, dass er sein Spiel lange nicht so spektakulär aussieht, wie das der anderen Youngsters Erling Haaland, Jadon Sancho oder Youssoufa Moukoko.
Reyna als "unsung Hero"
“Ich weiß, dass er auch sehr gut dribbeln kann und Moves hat. Aber er ist eben auch clever genug zu wissen, wann man sie einsetzen sollte und wann ein einfacher Pass die bessere Entscheidung ist”, sagt Pilkington. “Obwohl er so jung ist, ist er reif genug, um zu verstehen, dass er seinen Job machen muss und eine bestimmte Rolle im Team hat. Solche Spieler sind oft die ‘unsung Heroes’ und kriegen nicht die mediale Aufmerksamkeit wie andere, aber Trainer wissen solche Leute extrem zu schätzen.”
Sein erster Profi-Trainer Lucien Favre wusste schon vor Reynas Debüt, welches Talent der junge US-Amerikaner besitzt. “Man sieht im Training, dass er etwas hat. Wer das nicht sieht, ist blind", sagte der Schweizer damals. Und auch Edin Terzic setzte Reyna bislang regelmäßig ein. Es ist noch immer erstaunlich, wie schnell sich Reyna in Dortmund zurecht gefunden hat. Ein Teenager, der mit 16 Jahren auf einen neuen Kontinent wechselt. Der sein gewohntes Umfeld zurücklässt und bei einem der Top-Vereine Europas in kürzester Zeit zum wichtigen Spieler reift und sich offensichtlich schon sehr gut in Nordrhein-Westfalen eingelebt hat.
Seit Anfang des Jahres dürfte es sich für ihn dort noch ein gutes Stück mehr nach Heimat anfühlen. Denn seit Januar hat er ein alt bekanntes Gesicht aus New Yorker Zeiten ganz in seiner Nähe. Reynas früherer Teamkollege Joe Scally ist im Winter vom NYCFC zu Borussia Mönchengladbach gewechselt. “Die beiden waren sehr eng befreundet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich schon längst miteinander in Kontakt stehen”, sagt Pilkington, der am Dienstagabend wieder vor dem Fernseher sitzen wird.
Dann spielt der BVB gegen das große Manchester City. Und auch wenn Reyna zuletzt eher als Joker von Trainer Edin Terzic eingesetzt wurde, wird er wohl seine Minuten auf der größtmöglichen Bühne bekommen. Und so die Chance bekommen, den nächsten Schritt auf dem ihm vorgezeichneten Weg zu gehen. Dabei ist er erst 18 und so viel liegt noch vor ihm, verortet in einer großen Zukunft. Da sind sie sich beim BVB alle sicher. Oder wie er selbst es im Gespräch mit DAZN ausdrückt: "Wir alle können noch große Entwicklungssprünge machen in den nächsten zwei bis drei Jahren. Ich bin sicher, in den kommenden Jahren werden wir hier großartige Dinge leisten."