Ich kann mich noch gut an meine erste Begegnung mit Julian Nagelsmann erinnern. Julian war im Sommer 2010 als blutjunger Kerl auf Geheiß unseres damaligen Sportdirektors Ernst Tanner zur TSG Hoffenheim gekommen. Die beiden kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit bei 1860 München.
Ich selbst kam ein Jahr später als der Mann für Internationale Beziehungen und Scouting zur TSG. Als wir uns schließlich kennenlernten, war Julian unser U17-Trainer – und ich konnte das Ausmaß seiner Qualität noch gar nicht richtig einschätzen.
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Julian galt natürlich als sehr talentiert, allein aufgrund seines Alters eilte ihm in der Branche ein gewisser Ruf voraus. Dieser bestätigte sich dann in unserem ersten Gespräch. Im Dialog versprühte er eine ungeheure Energie, die in dieser Form extrem rar ist.
Nagelsmann der "wahrscheinlich spannendeste Trainer überhaupt"
Julian ist ein Getriebener, ein Perfektionist. Er kann nicht verlieren – und dabei spielt es keine Rolle, ob es um ein Pflichtspiel oder um ein eigentlich lockeres Duell im Tischtennis geht, um eine Runde Mikado oder ein kleines Kräftemessen mit mir im Elfmeterschießen. Sehr gut ist für ihn nicht gut genug; das wurde schon in jungen Jahren deutlich. Insofern ist es auch keine Überraschung, dass er heute das wahrscheinlich spannendste Trainertalent Europas ist. Wobei: Talent ist das falsche Wort. Julian ist kein Talent, dafür ist er trotz seiner erst 32 Jahre schon viel zu erfahren. Bei der TSG hat er die U17 und die U19 trainiert. Er arbeitete schon 2013 als Co-Trainer der ersten Mannschaft und trainierte diese dann vor seinem Wechsel zu RB Leipzig ab Februar 2016 über drei Jahre lang als Chefcoach. Julian kennt den Abstiegskampf und die Champions League. Deshalb würde ich sogar behaupten: Julian ist derzeit der wahrscheinlich spannendste Trainer überhaupt.
Bei Hoffenheim wollten wir Julian ursprünglich erst im Sommer 2016 die Nachfolge von Huub Stevens antreten lassen, der wiederum im Oktober 2015 als Feuerwehrmann Markus Gisdol ersetzt hatte. Aufgrund der prekären Lage – wir standen nach 20 Spieltagen mit 14 Zählern punktgleich mit dem damaligen Schlusslicht Hannover auf dem 17. Tabellenplatz und hatten bereits fünf Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz – haben wir uns jedoch entschieden, den geplanten Umbruch vorzuziehen. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen: Gott sei Dank.
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Ich werde nie vergessen, wie Kevin Volland mit leuchtenden Augen nach Julians allererster Einheit zu mir kam und sagte: 'Wir bleiben drin!' Julian hatte es in der kurzmöglichsten Zeit geschafft, die Spieler hinter sich zu bringen und einen Ruck zu erzeugen, der durch die Mannschaft ging. Es war wie ein Schneeballeffekt. Binnen Minuten war der erste Spieler infiziert, dann der nächste und nach ein paar Stunden der letzte. Julian ist eben ein Menschenfänger. Er hat seinen Spielern gezeigt, wo er hin will und wie er dorthin kommen will. Er hat sein mutiges, optimistisches und aktives Auftreten konträr zu unserer vorherigen Spielweise auf die Mannschaft übertragen. Was dann folgte, war allererste Sahne. Dabei geht es gar nicht primär um die Ergebnisse, sondern in erster Linie um die Art und Weise, wie wir plötzlich Fußball spielten. Spätestens nach der Saison war klar: Der junge Mann ist für höheres geboren.
Polanski, Vogt und Hübner? "Kategorie: Made by Nagelsmann"
Eine Eigenschaft, die Julian so besonders macht, ist die Tatsache, dass er jeden Spieler besser macht. Dazu ein Beispiel: Eugen Polanski ist ein gutes Jahr älter als Julian und ein sehr intelligenter, belesener Mensch, der sich schon immer weit über das normale Maß hinaus mit dem Fußball beschäftigt hat. Er wurde bei Borussia Mönchengladbach top ausgebildet, hatte bereits LaLiga-Erfahrung, war Führungs- und Nationalspieler. Wenn Eugen also nach wenigen Wochen unter Julian sagt "Jetzt verstehe ich den Fußball richtig", dann ist das ein riesengroßes Kompliment.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Eugen ist keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Kevin Vogt kam als – sorry, Kevin – durchschnittlicher Bundesliga-Sechser zu uns. Julian stellte ihn dann zentral in die Dreierreihe, als eine Art modernen Libero. Eine solche Rolle hatte es in der Bundesliga zuvor gar nicht gegeben. Und plötzlich war Kevin für einige Jahre einer der besten Defensivspieler Deutschlands, der zwischenzeitlich sogar mit dem FC Bayern in Verbindung gebracht wurde.
Oder nehmen wir Benjamin Hübner, der in Ingolstadt als klassischer Innenverteidiger seine Zweikämpfe und Kopfballduelle gewinnen sollte und den Ball gerne hoch und lang nach vorne geschlagen hat. Er hat sich jeden Tag Schritt für Schritt verbessert, war plötzlich nicht mehr auf Ingolstädter Niveau, sondern ein Top-Verteidiger der Bundesliga, der bei der Qualifikation für Europa eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat. Benni entwickelte sich unter Julian zu einem potenziellen Champions-League-Spieler.
Junge Talente fördern können viele, aber gestandene Spieler wie Eugen, Kevin oder Benni signifikant zu verbessern – so etwas ist ganz, ganz selten. Das ist die Kategorie: Made by Nagelsmann.
Pfannenstiel: Darin ist Nagelsmann sogar besser als Guardiola
Was mich an Julian ebenfalls unfassbar beeindruckt, ist seine Analysefähigkeit. Wenn ich beispielsweise während eines Live-Spiels als Experte für DAZN im Einsatz bin, soll und muss ich auch gewisse Dinge erkennen. Nur dauert es bei mir drei Minuten, bis ich beispielsweise eine Grundformation entschlüsselt habe. Julian dagegen weiß nach etwa 30 Sekunden Bescheid.
Wenn es darum geht, während einer Partie die Spielweise des Gegners zu lesen und die eigene Taktik entsprechend anzupassen, ist Julian für mich sogar besser als Pep Guardiola. Pep ist jemand, der wahnsinnig viel analysiert und dann eine Entscheidung trifft. Bei Julian dagegen läuft die Analyse parallel zur Beobachtung. Wir reden hier von einem sehr kleinen Zeitfenster, das aber entscheidend sein kann. Das ist übrigens kein Talent, sondern eine Gabe. Ich habe viele Trainer kennengelernt, aber diese Eigenschaft hat Julian exklusiv. Sie ist einzigartig.
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Eine wichtige Rolle spielt im taktischen Bereich Julians Schattenmann Benjamin Glück. Benschi hat als Praktikant bei der TSG begonnen und war anschließend Julians Videoanalyst, den er auch nach Leipzig mitgenommen hat. Die beiden verstehen sich blind – das ist wie bei Bud Spencer und Terrence Hill in Das Krokodil und sein Nilpferd. Entscheidend ist hierbei, dass Benschi genau weiß, was Julian gerade denkt und in der Analyse sehen will. Bei anderen Trainer-Analysten-Pärchen dagegen ist der Fokus oft ein unterschiedlicher.
Was mir in diesem Zusammenhang noch einfällt: Jede Trainingseinheit ist bei Julian anders. Er ist extrem fordernd. Wenn du seine Art des Coachings verstehst, wirst du Erfolg haben. Dann macht er dich automatisch besser. Wenn du es aber nicht schaffst, dich auf seine Art einzulassen, dann wirst du es bei ihm nicht packen. Julian setzt eine hohe Spielintelligenz sowie eine hohe Auffassungsgabe und bedingungslose Bereitschaft voraus.
Unter dem Strich kann man sagen, dass deutsche Trainer im internationalen Vergleich ohnehin gut abschneiden. Julian Nagelsmann sticht unter allen aktuellen Trainern allerdings krass hervor. Als der derzeit wahrscheinlich spannendste Coach überhaupt.