EXKLUSIV
Maceio im Nordosten Brasiliens. Malerische Sandstrände, imposante Architektur, auf den ersten Blick ein Urlaubsidyll. Der Schein trügt. Abseits der pittoresken, palmengezierten Küste herrschen Gewalt, Drogen, Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Maceio zählt zu den gefährlichsten Städten auf der Welt. Kriminelle Banden kontrollieren ganze Viertel, die Polizei kann sich besonders in den Favelas kaum durchsetzen, alle paar Stunden wird laut Statistik ein Mensch in Maceio ermordet.
Hier, in den Straßen und unwirtlichen Gassen der Millionenstadt beginnt die Geschichte eines Jungen, dessen größter Wunsch darin bestand, der Bedrückung zu entfliehen, hier manifestierte sich der Traum vom Fußballprofi. Hier beginnt die Geschichte von Roberto Firmino.
"Ich wollte nicht, dass Roberto draußen spielt, es war viel zu gefährlich in den Straßen", sagte seine Mutter einst im Gespräch mit dem englischen Boulevardblatt The Sun . "Die Leute sagten: 'Lass ihn gehen, er ist mit diesem Talent geboren.' Seit er acht Jahre alt war, schlief er mit dem Fußball im Arm ein."
In den Armenvierteln Brasiliens dient der Fußball nicht bloß als simple Passion oder schlichte Ausübung des kindlichen Hobbies, das häufig nur behelfsmäßig zusammengeflickte Leder steht sinnbildlich für das Streben nach Glück, für das Ausbrechen aus der sozialen Kalamität. Für viele Jugendliche ist der Fußball die einzige Chance überhaupt. Eine gleichermaßen kleine wie verlockende Möglichkeit, die auch Firmino als viel zitierten Silberstreif am Horizont ausmachte. Ein Horizont, der weiter entfernt sein sollte als gedacht.
"Brasilien ist ungleich entwickelt. Maceio hatte zu jener Zeit keinen großen Fußballklub", sagt Christian Rapp, der von 2007 an federführend dabei half, eine Zweigstelle der Beraterfirma Rogon in Brasilien aufzubauen, im Gespräch mit DAZN . Rapp begleitet Firmino seit dessen Jugendtagen, kennt den Werdegang des heutigen Liverpool-Stars genau. "Wenn du Profi werden wolltest, musstest du in Richtung Süden wechseln. Das fußballerische Zentrum liegt in Sao Paulo und Rio de Janeiro."
Da Firminos Eltern nicht über die finanziellen Mittel verfügten, ihrem Sohn die verhältnismäßig weite Reise in den Süden zu ermöglichen, halfen Freunde kurzerhand aus. "Freunde der Familie habe ihm damals, als er 14 Jahre alt war, ein Ticket nach Sao Paulo bezahlt, damit er beim FC Sao Paulo ein Probetraining absolvieren kann", sagt Rapp. "In Brasilien gibt es quasi eine Probetraining-Industrie, in einer normalen Woche kommen 40 oder 50 Spieler bei einem großen Klub zum Probetraining. Entsprechend klein sind die Chancen, es zu schaffen."
Firmino schaffte es nicht, fiel durchs Raster. Der große Traum drohte zu platzen, noch bevor er auch nur ansatzweise Fliegen gelernt hatte. Fatalisten würden die anschließenden Ereignisse als schicksalhafte Fügung deuten, andere als glücklichen Zufall. Jedenfalls öffnete sich eine andere Tür, als die erste sich geschlossen hatte. "Ein verdienter Spieler des Figueirense FC absolvierte damals seine Reha in Sao Paulo", sagt Rapp. "Er rief sofort den Präsidenten von Figueirense an und sagte: 'Ich habe hier einen Spieler gesehen, den Du in Deinem Internat aufnehmen musst!' Er hat Roberto beobachtet und festgestellt, dass Sao Paulo gerade einen großen Fehler begeht, den Jungen wieder wegzuschicken." Tatsächlich kam der Wechsel in die Jugendabteilung von Figueirense zustande. Man könne das Internat zwar nicht mit den Nachwuchsleistungszentren in Deutschland, England oder Spanien vergleichen, sagt Rapp. Aber immerhin lebte Firminos Traum wieder.
Das Problem: Figueirense ist in Florianopolis im Bundesstaat Santa Catarina beheimatet, mehr als 3000 Kilometer von Firminos Heimatstadt Maceio entfernt, quasi am anderen Ende des Landes. Eine weite, kostspielige Reise, die Firminos Familie nicht bezahlen konnte. Firminos Eltern liehen sich das nötige Geld bei Freunden. Sie ließen ihren Sohn ziehen, in dem Wissen, ihn für eine lange Zeit nicht wiederzusehen. "Mindestens zwei Jahre", sagt Rapp, habe Firmino seine Familie nicht zu Gesicht bekommen. "Weder die Eltern noch er selbst konnten das Geld für einen Besuch und eine anschließende Abreise aufbringen."
Pfannenstiel: "Dieser schlanke Brasilianer mit seiner Zahnspange hatte das gewisse Etwas"
Den Schmerz, tausende Kilometer von den Eltern getrennt zu sein, schien Firmino in noch größere Zielstrebigkeit umzuwandeln. "Es gab für Roberto nur einen Weg: Es auszuhalten und sich sportlich durchzusetzen", sagt Rapp. 2008, Firmino spielte noch nicht allzu lange in der Jugend Figueirenses, zog er die Aufmerksamkeit eines deutschen Torhüters auf sich, der seinerzeit ebenfalls in Santa Catarina, genauer gesagt bei CA Ibirama, kickte. "Die Campeonato Catarinense (Staatsmeisterschaft von Santa Caterina) war in vollem Gange, wir trafen einige Male auch auf Figueirense", erinnert sich Lutz Pfannenstiel im Gespräch mit DAZN .
"Es war üblich, die jeweiligen Jugendmannschaften bereits einen Tag vorher gegeneinander spielten. Diese Spiele habe ich mir häufiger angeschaut", erzählt Pfannenstiel weiter und ergänzt: "Roberto ist mir als ganz junger Spieler aufgefallen. Dieser schlanke, drahtige Brasilianer mit den großen weißen Zähnen und seiner Zahnspange hatte das gewisse Etwas. Es wirkte immer so, als sei Roberto seinen Mit- und Gegenspielern immer einen kleinen Schritt voraus. Dennoch hätte ich nie prophezeit, dass er eines Tages zu einem internationalen Topspieler reifen könnte." Um wen es sich bei dem Jungen namentlich handelte, wusste Pfannenstiel damals nicht. Dass er ein paar Jahre später noch einmal mit ihm konfrontiert werden würde, ebenso wenig.
Firmino avanvierte in Figueirenses U-Mannschaften zum Leistungsträger, im Oktober 2009 debütierte er mit 18 Jahren für die Profis in der zweiten brasilianischen Liga. Ein Durchbruch, der ihn auch bei Rogon mehr in den Fokus rücken ließ. "Roberto ist uns relativ früh aufgefallen. Als wir ihn persönlich kennengelernt haben, hatte er gerade erst seine erste Zahnspange bekommen", sagt Rapp. "Ein enger Partner von uns aus Brasilien stand mit ihm in Kontakt. Er hat mir ein sehr vorteilhaft geschnittenes Tape mitgegeben. Zur damaligen Zeit hat man noch CDs ausgetauscht."
Nach Sichtung besagter CDs habe man sich dazu entschieden, Firmino nach Europa zu bringen. "Wir sind mit dem Material nach Deutschland gegangen und haben mit allen möglichen Leuten gesprochen", erklärt Rapp. "Rückblickend wirkt das alles sehr einfach. Aber man muss sich klarmachen, dass die Verpflichtung eines jungen, brasilianischen Spielers immer mit einem gewissen Risiko verbunden ist. Es war gar nicht so einfach, Interessenten zu finden."
Ein Interessent war Olympique Marseille, das Firmino sogar zum Probetraining einlud. Bei der Zwischenlandung in Madrid dann der Schock: Firmino wurde die Einreise verweigert, weil die Behörden diverse Dokumente sehen wollten, die Firmino nicht vorweisen konnte. Er wurde zurück in die Heimat geschickt - und obendrauf mit einem zehnjährigen Einreiseverbot belegt. Der Teenager war am Boden. Beim nächsten Versuch holte Olympique den damals 17-Jährigen direkt nach Paris - nur um eine Verpflichtung nach dem Probetraining abzusagen.
Im beschaulichen Kraichgau landete das Video unterdessen unter anderem auf dem Tisch des neuen Scouts und Leiters für internationale Beziehungen: Lutz Pfannenstiel. "Kurz nachdem ich bei Hoffenheim im Scoutingbereich angefangen habe, wurde mir ein Video gezeigt. Und ich dachte mir: 'Den kenne ich doch irgendwoher!' Das war ein riesiger Zufall", sagt der 47-Jährige, der mittlerweile als Sportdirektor beim US-Klub St. Louis City arbeitet. Der schlanke, drahtige Brasilianer mit den großen weißen Zähnen und der Zahnspange hatte – zumindest auf virtuellem Wege - den Sprung nach Deutschland geschafft.
Die TSG kommt - und Firmino schmort auf der Bank
"Er hatte sich im Vergleich zu seiner Zeit als Jugendspieler körperlich weiterentwickelt", sagt Pfannenstiel. Dies sei mit Blick auf die fußballerische Philosophie im Süden Brasiliens allerdings auch obligatorisch gewesen. Der ehemalige Keeper führt aus: "Wenn die Menschen an brasilianischen Fußball denken, haben sie sofort Samba- und Zauberfußball im Kopf. Das mag für Rio de Janeiro, Salvador oder Recife zutreffen. Da kannst du dieses technische Spiel, den "Jogo Bonito" beobachten. Im Süden geht es aber ganz anders zur Sache. Das ist mit der härteste Fußball, den man sich vorstellen kann, die Jungs treten sich gegenseitig kaputt." Dies liege vor allem an der Mentalität, die den fußballerisch "relativ deutsch oder italienisch" geprägten Süden vom Rest des Landes unterscheide. "Die Spieler sind robuster und haben ihre Stärken besonders im körperlichen Bereich. In diesem Umfeld musste sich Roberto beweisen."
Videos dienen sicherlich dazu, einen ersten Eindruck zu gewinnen, zumindest grob auszuloten, ob der betroffene Spieler zum Klub passen könnte. Diese Hürde hatte Firmino bei der TSG schon einmal genommen, das Grundinteresse war geweckt. Jetzt galt es "nur" noch, die Verantwortlichen auch live zu überzeugen. Hoffenheims Sportdirektor Ernst Tanner flog im Herbst 2010 nach Brasilien, um sich selbst ein Bild von Firmino zu machen. "Das erste Spiel, für das sich Tanner angemeldet hatte, war ein Auswärtsspiel in Goiania", sagt Rapp. Irgendjemand habe ihm damals gesteckt, dass Figueirenses Rohdiamant in der Startelf stehen würde.
Tanner sei Rapp zufolge sehr höflich gewesen, habe Firmino immerhin attestiert, dass dieser sich gut bewegt habe. Viel mehr positive Erkenntnisse konnte der Gast aus Deutschland allerdings nicht notieren. "Glücklicherweise haben wir ihn beim Abendessen davon überzeugen können, dass seine Scoutingreise nicht so abrupt enden sollte." Tanner willigte ein, sich das nächste Heimspiel von Figueirense anzusehen, nahm die stundenlange Reise von Goiania nach Florianopolis auf sich.
Tanner mit McDonald's-Gutscheinen ins Training geschleust
"Natürlich stand die Frage im Raum, ob sich der ganze Aufwand für vielleicht wieder nur zehn Minuten Firmino-Spielzeit lohnen würde", sagt Rapp. "Ich habe Ernst versprochen, dass ich ihn irgendwie ins Training bekomme. Das ist in Brasilien gar nicht so einfach. Ich glaube, es hat uns ein paar McDonald's-Gutscheine gekostet, aber wir haben es geschafft, ihn heimlich ins Training zu schleusen. Im Training konnte er sich ein Bild von Roberto machen und war im Anschluss angetan von dessen Fähigkeiten."
Doch Tanner war vornehmlich nach Brasilien gereist, um sich Firminos Qualitäten unter Wettbewerbsbedingungen anzusehen. Dass der Youngster im zweiten Spiel unter Tanners Augen von Beginn an ran dürfen würde, habe sich laut Rapp zuvor "keineswegs" angedeutet. "Der Trainer hatte ihn im Training deutlich kritisiert." Dennoch vertraute er auf Firmino. Der junge Offensivmann spielte – und überragte: "Noch bevor der Schiedsrichter zur Halbzeit gepfiffen hatte, ist Ernst Tanner aufgestanden und sagte: 'Das müssen wir unbedingt machen. Er muss sofort im Januar kommen.'", sagt Rapp.
"Wir hatten schon mit Robertos Landsmännern Carlos Eduardo und Luiz Gustavo sehr gute Erfahrungen gemacht. Beide wurden bei ihren Wechseln von Rogon, derselben Berateragentur, die auch Firmino betreute, vertreten. Rogon hat ein gutes Einschätzungsvermögen, wenn es darum geht, welche Brasilianer es potenziell in Deutschland schaffen können", versichert Pfannenstiel mit Blick auf Firminos Wechsel aus Südamerika nach Deutschland. Nicht zuletzt wegen der positiv verlaufenden Karrieren von Eduardo und Gustavo sei Hoffenheim am Zuckerhut ein wohlklingender Name für junge Spieler. "Ganz viele der späteren Top-Brasilianer flogen anfangs unter dem Radar, das ist nichts Ungewöhnliches. Es ist häufig so, dass Berater brasilianische Spieler zunächst in Spanien oder Portugal anbieten. Aber Hoffenheim hatte in den vergangenen Jahren bewiesen, dass junge, bis dahin unbekannte Brasilianer bei der TSG einen sehr guten Weg nehmen können."
Auch Firmino war bereit, seinen Weg im Rhein-Neckar-Kreis fortzusetzen. Obwohl auch der FC Arsenal und die PSV Eindhoven zuvor ihren Hut in den Ring geworfen hatten, wie Pfannenstiel verrät. "Wir waren der Meinung, einen hochtalentierten Spieler zu bekommen." Seine Physis sei noch ausbaufähig gewesen. Aber dies sei etwas, das man sich antrainieren könne. "Das Auge, das schnelle Umschalten im Kopf, also das rohe Talent und die Schnelligkeit das kann man nicht trainieren. Das hat man oder man hat es eben nicht." Firmino hatte es.
Etwas weniger als vier Millionen Euro zahlte Hoffenheim im Januar 2011 für die Dienste des verheißungsvollen 19-Jährigen. Doch sein Weg war zunächst einigermaßen beschwerlich, beginnend mit seiner Ankunft in Deutschland von Hürden gesäumt. "Am Tag seiner Ankunft gab es in Frankfurt einen Wintereinbruch, es lagen 25 Zentimeter Schnee. Als er in Ludwigshafen in unserem Büro aufschlug, sind wir erst einmal losgefahren und haben im Sport Scheck Jacken für ihn gekauft", berichtet Rapp. Eine ziemliche Umstellung, in Florianópolis ist der Januar mit einer Durchschnittstemperatur von rund 27 Grad traditionell der wärmste Monat des Jahres.
Pfannenstiel kann verstehen, dass die ersten Kraichgau-Eindrücke für einen neuen Brasilianer nicht ganz einfach sein können: "Wenn du aus Brasilien kommst und dann erstmals zum Trainingsgelände nach Zuzenhausen aufs Land fährst, ist das in gewisser Weise ein Kulturschock." Firmino sei bei seiner Ankunft sehr schüchtern gewesen und habe verständlicherweise eine Zeit gebraucht, um sich an sein neues Leben in Deutschland zu gewöhnen. Zudem habe anfangs nicht jeder im Sinsheimer Umfeld daran geglaubt, dass Firmino sich durchsetzen könne. "Es gab zu Beginn kritische Stimmen, die – vor allem aufgrund seiner Physis – an ihm gezweifelt haben", sagt Pfannenstiel. Firmino-Förderer Tanner selbst hatte noch im Februar vergangenen Jahres in einem Interview mit Bleacher Report die damaligen Zweifel legitimiert und Firminos offenbar desolate körperliche Verfassung enthüllt.
"In Deutschland machen wir Fitness- und Bluttests, die sehr akkurat sind", sagte er und legte offenherzig nach: "Er hatte die schlechtesten Werte, die ich je bei einem Fußballprofi gesehen habe. Ich würde sogar soweit gehen, dass er in der Anfangszeit schlechtere Werte als meine Oma hatte. Sie waren so unterirdisch, dass man kaum glauben konnte, dass er in der Lage war, professionellen Fußball zu spielen."
Firmino bei Hoffenheim zunächst als Fehleinkauf abgestempelt
Dementsprechend war Firmino nicht imstande, seinem neuen Arbeitgeber sofort weiterzuhelfen. Johannes Spors, seit April 2020 als Sportdirektor bei Vitesse Arnheim angestellt, arbeitete damals als Videoanalyst für die TSG. Er denkt im Gespräch mit DAZN an den Winter 2011 zurück. "Robertos erstes Spiel für Hoffenheim war ein Testspiel für die zweite Mannschaft unter Markus Gisdol gegen Waldhof Mannheim, das Wetter war katastrophal. Roberto hat sich merklich schwergetan. Wer wollte es ihm auch verübeln? Du kommst aus Brasilien und musst dann bei solchen äußerlichen Bedingungen ran, da bist du perplex."
Spors erklärt, dass Firmino selbstverständlich als Spieler für die erste Mannschaft eingeplant war, das Freundschaftsspiel habe vor allem der Belastungssteuerung gedient. Kurz gesagt: Firmino sollte sich in der U23 Spielpraxis holen und Kondition pumpen. Gisdols Mannschaft bezwang den Lokalrivalen vor knapp 200 Zuschauern mit 2:1, Firmino steuerte die Vorlage zum entscheidenden Treffer bei. Sein Bundesliga-Debüt sollte noch auf sich warten lassen, erst Ende Februar spulte er die ersten Minuten in Deutschlands Beletage ab, 15 an der Zahl.
Den Großteil der Rückrunde verbrachte Firmino auf der Bank. Im April stand er erstmals in der Startelf, bis zum Ende der Saison standen drei Einsätze über 90 Minuten und drei Treffer in elf Partien zu Buche. Die kritischen Stimmen waren in der Zwischenzeit immer lauter geworden. Wolfgang Brück, Chefreporter der Rhein-Neckar-Zeitung, wurde in einem Leitartikel mit dem Titel "Firmino offenbar nicht gut genug!" zitiert. Man müsse sich bei Hoffenheim fragen, "ob man sich vergriffen hat", schrieb Brück und warf die Frage auf, warum der Neue so wenig spiele. Dies sei "schlechte Integration."
Der gescholtene Edeltechniker ließ sich nicht unterkriegen, entwickelte einen unbändigen Ehrgeiz. "Das Außergewöhnliche an ihm war, dass er eine unglaubliche Willenskraft hatte", sagt Rapp. "Er wollte sich durchsetzen und hat sich nicht von Rückschlägen zurückwerfen lassen." Pfannenstiel bestätigt die Wahrnehmung des Beraters: "Am Anfang war es nicht so leicht, das Spiel war sehr schnell und sehr physisch. Aber seine regelmäßigen Zusatzschichten im Training trugen dazu bei, dass er sich schnell angepasst hat. Roberto hat sich von vielen anderen jungen Spielern, die mit einer anderen Fußballkultur aufgewachsen sind, unterschieden – er hat sowohl vor als auch nach dem Training extrem an sich gearbeitet. Er hat etliche Stunden im Kraftraum verbracht. Man konnte quasi dabei zusehen, wie er immer muskulöser wurde. Mit der Zeit wurde er immer besser, immer wichtiger."
Dass Firmino sich nach und nach immer besser akklimatisierte, sei Pfannenstiel zufolge auch Cesar Thier zu verdanken gewesen. Der damalige Torwarttrainer, selbst gebürtiger Brasilianer, nahm Firmino unter seine Fittiche: "Cesars Familie hat Roberto am Wochenende immer wieder eingeladen. Bei den Thiers wurden brasilianische Gerichte gekocht, brasilianische Musik gehört und Portugiesisch gesprochen. Cesar hatte eine gewisse Wohlfühlsituation geschaffen, Roberto war sofort familiär eingebunden. Diese Rückzugsoase hat ihm extrem dabei geholfen, sich in Deutschland einzuleben."
Von der Tatsache, dass die anfänglichen Komplikationen sich aufzulösen schienen, nahm man auch in Firminos Heimatland Notiz. Der brasilianische Verband nominierte den Hoffenheimer, der nie für eine U-Nationalmannschaft aufgelaufen war, um sich für die Olympia-Auswahl zu empfehlen. Hoffenheim legte jedoch sein Veto gegen die Abstellung ein. "Ernst Tanner sagte, dass Roberto größere Chancen habe, in Hoffenheim Fuß zu fassen, wenn er die ganze Zeit in Deutschland bleibe. Eine rationale und völlig verständliche Sichtweise", sagt Rapp. "Allerdings kann der brasilianische Verband in solchen Fällen recht deutlich werden und quittiert eine Nichtabstellung nicht selten mit einer lebenslangen Nichtberücksichtigung. Roberto wusste das."
Mit Engelszungen redeten Firmino und sein Berater auf Tanner ein, er möge ihn doch bitte freigeben. Tanner blieb bei seiner Entscheidung. "Der Verband antwortete postwendend per Fax, innerhalb von 30 Minuten, dass er Roberto nie wieder berücksichtigen werde. Man kann sich vorstellen, was es für einen jungen Spieler bedeutet, voraussichtlich nie für sein Land auflaufen zu dürfen. Roberto war tieftraurig, aber er hat es akzeptiert und weiter an sich gearbeitet."
Rangnick-Idee als Wegbereiter für Firminos Aufschwung
So sehr, dass seine zweite Saison bei Hoffenheim deutlich vielversprechender wurde (sieben Tore, vier Vorlagen). Nach der Sommervorbereitung mauserte sich Firmino zum Stammspieler. Seine körperlichen Defizite hatte er im Kraftraum und im Wald nicht nur aufgearbeitet, er entwickelte sich zum Vorzeigeprofi. Ex-Videoanalyst Spors hebt dabei die Laufleistung hervor. "Dass er außerordentliche Fähigkeiten im kreativen Bereich hat, war sofort klar. Bei ihm kam aber dazu, dass er in puncto Intensität ganz vorne mit dabei war. Er war der Spieler mit den meisten Sprints im Verhältnis zur Gesamtlaufleistung. Das ist für seine Position ungewöhnlich."
Die Hoffenheimer Spielidee von damals, die von Ralf Rangnick implementiert und später von Gisdol fortgeführt wurde, sei Firmino laut Spors extrem entgegengekommen. "Das aggressive Pressen hat er sehr gut angenommen. Roberto ist ein sehr fleißiger Spieler, der immer eine hohe Intensität auf den Rasen gebracht und viele Bälle erobert hat. Die Kombination aus diesen Eigenschaften und seiner enormen Kreativität hat ihn zu etwas ganz Besonderem gemacht."
Firmino sei mit einer "natürlichen Aggressivität" ausgestattet. Diese habe sich besonders ausgezahlt, wenn es darum ging, ein schnelles Umschaltspiel zu erzwingen. "Ihm diese taktische Marschroute näher zu bringen, fiel auf fruchtbaren Boden. Wir mussten ihm nicht die Aggressivität beibringen, sondern nur eine Anleitung mit an die Hand geben, wie er damit umzugehen hat."
Aufbauhilfe beim Italiener
Firmino hatte sich seinen Weg, wie schon zu Figueirense-Zeiten, als er sich gegen alle Widerstände durchsetzte, selbst geebnet. Seine Karriere behielt aber eine gewisse achterbahneske Inkonstanz. Die Spielzeit 2012/13 verkam für Hoffenheim und Firmino zu einer Horrorsaison, die beinahe im Abstieg der Kurpfälzer gemündet hätte. "Roberto erlebte viele Höhen, aber auch einige Tiefen in Hoffenheim", sagt Rapp. "Besonders in der Saison 2012/13, in der Hoffenheim fast abgestiegen wäre, gab es schwierige Zeiten. Wir saßen gemeinsam beim Italiener und haben ihm seine besten Szenen gezeigt, um ihn aufzubauen. Wir haben ihm gesagt: 'Schau Dir die Videos an, Du musst Dich wieder auf Deine Stärken besinnen.'" Doch Firmino habe nicht gewusst, was er zuvor besser oder anders gemacht habe. Sogar ein Wechsel stand im Raum.
Firmino wechselte nicht. Noch nicht. "Am zweiten Spieltag siegte Hoffenheim mit 5:1 gegen den HSV, Roberto war an allen fünf Toren direkt beteiligt", sagt Rapp. "Das war der Startschuss in seine größte Saison in Hoffenheim." Pfannenstiel stimmt ihm zu: "Aus meiner Sicht war die vorletzte Hoffenheim-Saison seine beste. Danach standen die Schwergewichte aus England, Spanien und Italien Schlange." Kein Wunder, wirft man einen Blick in die Statistik: 22 Tore sowie 16 Vorlagen stehen zehn Treffern und zwölf Assists in der darauffolgenden Spielzeit, seiner letzten im Dress der TSG gegenüber.
41 Millionen Euro überwies der FC Liverpool im Sommer 2015 für Firmino. Brendan Rodgers sollte von seinem Königstransfer jedoch nicht viel Freude haben. Drei Monate nach dem Firmino-Deal musste der Coach der Reds seinen Hut nehmen und Platz für Jürgen Klopp machen. "Dass Klopp übernommen hat, war das Beste, das aus Robertos Sicht passieren konnte", sagt Pfannenstiel. "Er weiß genau, was der Trainer von ihm erwartet: Diszipliniertes Pressen, hohes, aggressives Anlaufen." Ebenjene Eigenschaften, die Spors als Vorzüge im Spiel des flexiblen Angreifers ausgemacht hatte. Pfannenstiel beteuert. "Klopps Spielweise passt wie die Faust aufs Auge."
Firmino, übrigens im November 2014 vom brasilianischen Verband "begnadigt" und mittlerweile fester Bestandteil der Selecao, hatte in Liverpool mit deutlich weniger Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen. Schon in seiner ersten Saison an der Mersey brachte er es auf 31 Pflichtspieleinsätze, trat zehnmal als Torschütze und achtmal als Vorlagengeber in Erscheinung. Seit jeher zeigt die Formkurve konstant nach oben, gemeinsam mit Sadio Mane und Mohamed Salah bildet er ein brillantes Trio.
"Mo Salah, weltklasse, aber nicht jeden Tag. Sadio Mane, weltklasse, aber nicht jeden Tag. Roberto Firmino, weltklasse, fast jeden Tag", adelte Klopp seine Nummer 9, die später erheblichen Anteil am Champions-League-Sieg 2019 und an der ersten englischen Meisterschaft nach 30 Jahren für Liverpool im Jahr 2020 haben sollte. Firminos Wegbegleiter bescheinigen ihm, seit dem Wechsel einen abermaligen, herausragenden Schritt nach vorne.
Roberto Firmino "der unauffälligste Weltklassespieler, den es gibt"
"Er ist noch stabiler geworden, für mich ist Roberto der unauffälligste Weltklassespieler, den es gibt", schwärmt Spors und begründet: "Er hat die Fähigkeiten selbst zu glänzen, aber lässt oftmals die anderen glänzen, weil er so viel arbeitet. Es ist kein Zufall, dass er bei Klopp unantastbar ist." Pfannenstiel ist indes der Meinung, dass Firminos Leistungen in der Öffentlichkeit zu wenig Wertschätzung erfahren. "Alle sprechen über Mane und Salah. Aus meiner Sicht ist Roberto Liverpools MVP. Er ist derjenige, der am meisten läuft, die Räume schafft und extrem viele Chancen kreiert."
Obwohl Firmino es offenbar bestens versteht, seine beiden Teamkollegen einzusetzen und sich selbst im Hintergrund zu halten, lesen sich seine Liverpool-Zahlen seit 2015 ansprechend. In wettbewerbsübergreifend 277 Partien, knipste er 84-Mal, 67 Tore legte er auf.
Mahatma Gandhi hat einmal gesagt: "Stärke wächst nicht aus körperlicher Kraft, vielmehr aus unbeugsamem Willen." Roberto Firmino hat während seiner aufwühlenden Karriere eindrucksvoll belegt, wie groß die Berge sein können, die ein Mensch mit dem Glauben an sich selbst zu versetzen vermag. Ein Glaube, der in den rauen Straßen Maceios laufen lernte, sich in Florianopolis und Hoffenheim immer wieder aufrappelte und mittlerweile die höchsten Gipfel des Fußballsports erklommen hat.