Der Fußballkäfig ist ein paradoxer Ort. Wo kein Gras wächst, sind zahlreiche Fußballer groß geworden. Sie waren frei, obwohl er sie begrenzt hat. Und haben eine Liebe zu einer Art des Spiels entwickelt, bei dem es regelmäßig auf die Nuss gab.
Mit seinem erbarmungslosen Betonboden und unnachgiebigen Metallstangen steht der Käfigfußball für das Raue im Spiel. Er bringt Spieler mit Kanten hervor, denen die Schablonen der Akademien dieser Welt nicht anliegen. Deren ungeschliffene Charaktere für Härte, Willen und Ehrgeiz stehen, deren Spiel für Kreativität, Individualität und Ideenreichtum.
Kaum eine Gruppe von Spielern hat das Bild des Straßenkickers in Deutschland so sehr geprägt wie die fünf Protagonisten aus dem DAZN Original Underground of Berlin. "Gewachsen auf Beton", steht noch heute über den Konterfeis der Boateng-Brüder Jerome, Kevin-Prince und George auf der Häuserfassade im Berliner Wedding, Ecke Pankstraße. Es erinnert an die Vergangenheit der drei Geschwister in der berüchtigten Panke, Deutschlands wohl berühmtesten Fußballkäfig im Berliner Brennpunkt.
Käfigfußball lässt sich nicht nachstellen
Fußballkäfige stehen zwar nicht ausschließlich in sozial benachteiligten Vierteln. Es gibt sie auch auf dem Uni-Gelände, dem Schulhof oder abseits des Dorfzentrums, umgeben von hügeliger, grüner Gegend und angebunden durch eine einsame, abgelegene Bushaltestelle. Hier spielen nach Feierabend bierbäuchige Altherrenkicker in Ballonseide genauso wie Bambinis mit winzigen Fußballschuhen und Möchtegern-Messis mit gefälschten Trikots und Handymusik. Einer von ihnen hat bestimmt schon mal in der Landesliga gespielt.
Auch Profivereine haben meistens irgendwo auf ihrem Trainingsgelände ein umrahmtes Kleinfeld stehen, auf das sie ihre Akademieschüler schicken in der Hoffnung, sie würden ein Stück Grobschlächtigkeit mitnehmen, die es manchmal auf dem Platz braucht. Der echte, wahrhaftige Käfigfußball lässt sich aber nicht unter Laborbedingungen nachstellen. Und die größten und gröbsten Geschichten schreibt der Fußball eben in Käfigen wie der Panke.
Das Recht des Stärkeren
Wie die von Patrick Ebert, der aus dem fernen Kiel zugezogene kleine Fremde. "Ich bin hier mit meinem Ball angekommen als blonder Junge und um mich herum nur Schwarzköpfe. Da wurde der Ball erstmal weggeschossen", erinnert sich der ehemalige Bundesligaprofi in Underground of Berlin an seine Anfänge im Berliner Käfig.
Immer wieder sammelte er seinen Ball ein und kam zurück, immer wieder wurde er abgewiesen und rannte ihm wieder hinterher. Bis er sich endlich durchsetzte, mitspielen durfte und den Gegnern Knoten in die Beine dribbelte. Als er einmal einen älteren Kontrahenten tunnelte, durfte er den Betonboden küssen. Und wurde von Kevin-Prince zusammengestaucht. "George darf tricksen. Du nicht."
Im Käfig gilt das Recht des Stärkeren. Einen Schiedsrichter, einen Trainingsleiter oder eine andere Obrigkeit gibt es nicht. "Da wird es auch mal giftig", sagt Andreas "Zecke" Neuendorf, früherer Jugend- und heutiger Co-Trainer bei Hertha BSC, in Underground of Berlin: "Wenn du in so ein Eisentor triffst und der Ball springt wieder raus, dann kann es schon mal sein, dass dir einer, der drei oder vier Jahre älter ist und so ein Kreuz hat, sagt: War Latte. Und dann sag mal: Nee, war Tor. Dann kommt er an und dann knallt es mal."
Sprengstoff im Käfig
"Im Käfig bist du dir selbst überlassen", meint Martin Jedrusiak-Jung im Gespräch mit DAZN. Der 43-Jährige ist Fußballdozent an der Deutschen Sporthochschule Köln im Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten und ehemaliger DFB-Nachwuchstrainer. Fußballerisch großgezogen im Fußballkäfig in Bonn-Tannenbusch, sozusagen dem Wedding des Westens.
Auch er hat eine niedrige Hemmschwelle und ein hohes Konfliktpotenzial erlebt: "Dadurch baut man physisch wie psychisch eine Konsistenz auf. Im Verein spielen größtenteils gleichdenkende Menschen. Im Käfig sind alle unterschiedlich. Es prallen verschiedene Kulturen, Meinungen und Religionen aufeinander. Das endet hin und wieder in Drucksituationen und Aggressionen."
Die Umgebung sorgt außerdem für eine Intensität, die ein geregeltes Fußballspiel nie erreichen kann. Es ist klein und eng, hektisch und unübersichtlich. Der Ball ist nie im Aus, Boateng und Co. spannten einst gar ein Netz über die Panke, damit er selbst über den Luftweg nicht das Spielfeld verlassen konnte. Wer einen Gegenspieler hinter sich gelassen hat, hat den nächsten Zweikampf unmittelbar vor sich. Körper prallen aufeinander, es ist laut und hitzig. Das schürt Emotionalität und Explosivität.
Underground of Berlin - Staffel 2 ab Freitag bei DAZN
"Das war eine Art, Wut rauszulassen"
In solchen Momenten geht es im Käfig um Standhaftigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Er ist Stahlbad, Fluchtort und Emotionsventil zugleich. "Du kannst weinen, oder du gehst in den Käfig, und dann gibt‘s auf die Knochen. Das war eine Art, Wut rauszulassen", sagt Kevin-Prince Boateng in Underground of Berlin. "Der Käfig war für uns alle eine große Hilfe. Er hat uns abgehärtet", sagt Ashkan Dejagah.
"Wir haben uns wirklich versteckt auf dem Fußballplatz", erzählt Mohammed Nasrallah, für den es im Gegensatz zu Boateng, Ebert, Dejagah, Änis Ben-Hatira oder Chinedu Ede nicht für den Profifußball reichte. Der aber trotzdem viele Stunden seiner Jugend mit den begabten Freunden auf dem Fußballplatz verbrachte.
Der Bolzplatz als Zufluchtsort. Zu Hause war kein Platz und keiner da, die Eltern arbeiteten. Die Straße war eine gefährliche Ablenkung. Schule? "Schule ist natürlich so ein Thema gewesen... wir waren anwesend", schmunzelt Nasrallah. Also lieber frei sein im Käfig, sich sorgenfrei bis Sonnenuntergang auspowern.
"Wichtig waren nur zwei Dinge: Dass man standhaft blieb. Und dass man sich nicht verarschen ließ", erzählt Ebert im Gespräch mit 11FREUNDE. "Wenn du nicht gewonnen hast", sagt Ben-Hatira, "musstest du dich draußen hinsetzen und erstmal 'ne Stunde oder eineinhalb warten, bis du wieder dran warst. Da saßen zehn oder zwölf andere Mannschaften, die auch spielen wollten. Da gab es die eine oder andere Eskalation."
Der Fußball als verbindende Kraft
In Underground of Berlin zeichnen Ben-Hatira, Boateng und Co. ein verruchtes Bild des Käfigfußballs und ihres Viertels, mit einem Flair, angesiedelt irgendwo zwischen Straßenhärte der New Yorker Bronx und Berliner 16-Blocks-Gangstertum. Er hat sie zu ausgezeichneten Fußballern gemacht, die Entwicklung sozialer Integrität aber vernachlässigt, wie der Lauf ihrer Karrieren zeigte.
Das ist ihre Geschichte. Käfigfußball deswegen aber über einen Kamm zu scheren, wäre viel zu einfach. Nicht nur, weil ihre Geschichte fast 20 Jahre zurückliegt. Vielmehr, weil er darüber hinaus noch so viel mehr bietet. In Wien zum Beispiel organisiert die Caritas die Käfig League, die wöchentliche Trainingseinheiten und regelmäßige Wettkämpfe anbietet und mit der verbindenden Kraft des Fußballs Werte wie Fairness, Respekt und Toleranz vermittelt. Vor allem für Geflüchtete ist sie ein wichtiges Mittel zur Integration und ein Auffangbecken in der österreichischen Hauptstadt.
Ferner hat die NGO streetfootballworld ein weltweites Netzwerk aufgebaut, um benachteiligten Kindern in den ärmsten Ländern der Welt das Kicken zu ermöglichen. Zusammengehörigkeit und Gemeinnützigkeit stehen auf ihrer Agenda, um Rassismus, Kriminalität und Gewalt entgegenzuwirken. In den Großstädten und Slums dieser Welt mit Käfigen, in der Peripherie mit jeder Art von Bolzplatz.
Grenzenlose Freiheit im Käfig
"Mit Käfigfußball verbinde ich grenzenlose Freiheit", sagt Jedrusiak-Jung, "es ist ein Auspowern ohne Belastungssteuerung, ohne ganzheitliche, angeleitete oder begleitete Konzepte, ohne feste Trainingszeiten oder Vorgaben. Keiner sagt dir, wo du hinlaufen sollst." Taktische Abläufe spielen keine Rolle, stattdessen geht es um "konditionelle, psychische, soziale und technische Faktoren. Um Handlungs- und Reaktionsschnelligkeit und kognitiv um eine gute Orientierung und Wahrnehmung."
Da Altersstrukturen irrelevant sind, müssen junge und körperlich unterlegene Spieler andere Lösungen finden, um sich durchzusetzen. "In der Wissenschaft sprechen wir von der Underdog-Theory", sagt Jedrusiak-Jung. Auch die Straßenfußballhypothese wurde in der Kreativitätsforschung belegt und besagt unter anderem, dass freies und vielseitiges Spielen zur besseren Entwicklung des taktischen und technischen Kreativitätspotentials beiträgt.
Aufgeschürfte Knie und eine Schulter im Nacken
Soweit der wissenschaftliche Duktus. In der Praxis zeigt sich, dass vor allem kleine, schnelle und technisch starke Offensivspieler mit hoher Individualität dem Käfigfußball entspringen anstatt beinharte Verteidiger. Das gilt selbst für Jerome Boateng, der zwar zu den besten Abwehrspielern der Welt gehörte, was er aber vor allem seiner enormen Schnelligkeit und seiner überragenden Spielstärke zu verdanken hatte.
"Asphalt, Schotter, unebene Böden, schlechte Bälle und asymmetrische Felder sorgen dafür, dass an die Spieler differenzielle Anforderungen gestellt werden, die die Kreativität und Koordination der Spieler immer auf ein Neues in differenzieller Weise herausfordert", heißt es in einem Aufsatz von Bundesliga-Nachwuchstrainer Christian Dobrick beim Portal talentkritiker.de. Demnach müssten nach dem "Trial-and-Error"-Prinzip ständig unter Druck neue Lösungen gefunden werden.
Was im Verein das unmittelbare Feedback des Trainingsleiters und der erneute Anlauf auf gepflegtem Rasen sind, sind im Käfig die aufgeschürften Knie oder eine Schulter im Nacken. Gleichzeitig unterstreicht Dobrick, dass unerwartete und selbst gefundene Lösungen erwiesenermaßen die Ausschüttung von Glückshormonen erhöhen. Und je glücklicher es einen macht, desto besser verinnerlicht der menschliche Körper diese Lösungen.
Wo sind nur die Straßenfußballer hin?
Differenzielles Lernen statt Training aus dem Lehrbuch unter dem Mikroskop. Dadurch entstehen Spieler mit individuellen Fähigkeiten, die gerade der deutsche Fußball dieser Tage vermisst. Wo sind nur die Straßenfußballer hin, hieß es nach der verkorksten Weltmeisterschaft 2018 in Russland, als Deutschland beschämend in der Vorrunde scheiterte und Frankreich mit einer Mannschaft Weltmeister wurde, die von Pariser Vorstadtkickern wie Kylian Mbappe, Paul Pogba, N'Golo Kante oder Blaise Matuidi geprägt wurde.
In Zeiten, in denen Talente nicht jung genug in die Akademien gedrängt werden können, ist eine neue Generation von Straßenfußballern in Deutschland nicht in Sicht. "Ich finde es erschreckend, wie wenige es von den Käfigen in Deutschland noch gibt", sagt Jedrusiak-Jung. "Die Infrastruktur gibt es gar nicht mehr. Und wenn noch irgendwo gebolzt werden darf, dann nur solange sich kein Anwohner beschwert."
Immer weniger Bewegung bei Kindern und Jugendlichen
Auch Studien des Karlsruher Instituts für Technologie in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut belegen einen deutlichen Rückgang der unorganisierten körperlich-sportlichen Aktivität bei Kindern und Jugendlichen. "Auswirkungen ungewiss. Entwicklung muss kritisch beobachtet werden", heißt es da im Jahr 2019 noch vor der Corona-Pandemie nach der letzten Längsschnittstudie. Und wenn Zugang bestünde, haben die Kinder oft keine Zeit aufgrund von Ganztagsschule, Hausaufgaben, Vereinssport und bestenfalls noch Musikunterricht.
Mit all dem hatten die Jungs aus Underground of Berlin nichts zu tun. Sie steckten all ihre Energie in den Fußball im Käfig. Auch deswegen haben es viele von ihnen in den Profifußball geschafft. "Der Fußballkäfig hat mir für meinen Ehrgeiz 80 Prozent in meinem Leben gegeben", sagt Kevin-Prince Boateng, "'das geht nicht' gab es da nicht. Es geht immer."