1993, also vor beinahe 30 Jahren, durfte Bayer Leverkusen letztmals einen Titel bejubeln: Ulf Kirsten schoss die Mannschaft von Dragoslav Stepanovic damals im DFB-Pokal-Finale gegen die zweite Mannschaft von Hertha BSC zum Cup-Gewinn.
Oft war es in den Folgejahren knapp, doch eine Trophäe blieb Bayer bis heute verwehrt. Auch in der laufenden Spielzeit tummelt sich die Werkself wieder im Favoritenkreis in der Bundesliga.
Am Sonntag um 15.30 Uhr gastiert Titelverteidiger Bayern München in der BayArena (hier geht's zum exklusiven Livestream auf DAZN!). Mit einem Dreier könnten die aktuell punktgleichen Leverkusener den Rekordmeister sogar von der Pole Position verdrängen. In der Europa League ist die Werkself zudem nach zwei Spielen noch ohne Punktverlust und steht auch im DFB-Pokal in Runde zwei.
Der aktuelle Coach Gerardo Seoane will im Gespräch mit DAZN aber (noch) nichts von Titeln wissen. Der Schweizer, der in den zurückliegenden drei Jahren mit den Young Boys aus Bern dreimal Meister in der Super League wurde, spricht vor dem Top-Spiel darüber, wie er Bayer Leverkusen "ambitioniert, aber demütig" zu einer Mannschaft formen möchte, die in Zukunft um Trophäen mitspielen kann.
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Bayer Leverkusens Chefcoach Gerardo Seoane spricht bei DAZN über …
… einen Titelgewinn als Ziel bei der Amtsübernahme: "Mein Ziel ist es, gute Arbeit zu machen – und das beginnt viel, viel früher. Sich gut zu integrieren, den Klub und die Menschen hier richtig kennenzulernen. Es braucht eine gute Zusammenarbeit, um etwas voranzubringen. Ich beschäftige mich nicht mit dem, was am Schluss vielleicht kommen könnte. Wenn man zu viel träumt, vergisst man die tägliche Arbeit. Ich bin ein Trainer, der sich auf das fokussiert, was er ändern und sofort anpacken kann. Und das ist vor allem die tägliche Arbeit zusammen mit meinem Staff: Die Spieler gut kennen lernen, der Mannschaft eine gewisse Spielidee mitgeben, gewisse Werte, die wir auf und neben dem Platz verkörpern wollen."
… seine Idee vom Fußball und sich selbst als Trainer: "Wir nehmen nur einen Satz: Das beste aus den Möglichkeiten und den zur Verfügung stehenden Ressourcen herausholen. Ich versuche immer, eine Analyse des Kaders vorzunehmen mit dem Staff und der sportlichen Führung, um dann daraus zu schließen: Wie können wir erfolgreich spielen? Wo haben wir Potenzial, um uns weiterzuentwickeln? Es gibt für mich nicht eine Spielidee, die zielführend ist, sondern es gilt, das beste aus den Ressourcen herauszuholen."
… seinen Abschied aus der Schweiz und den Unterschied zwischen Super League und Bundesliga: "Man muss sich Zeit lassen, bevor man den nächsten Schritt macht. Und nach drei Jahren in Bern hatte ich das Gefühl, dass sowohl ich bereit bin, eine neue Herausforderung anzugehen, aber auch im Sinne des Klubs gedacht habe, dass jetzt ein guter Moment für einen neuen Trainer nach drei intensiven Jahren wäre. Der größte Unterschied ist die Dimension der Liga, was auch normal ist, weil die Schweiz ein kleines Land ist und der Fußball anders gelebt wird wie hier. Hier steht quasi jede Stadt zu 100 Prozent hinter ihrem Verein. Auch die mediale Präsenz und die Tragweite sind nicht zu vergleichen mit der Schweiz."
… den aktuellen Kader von Bayer Leverkusen: "Wir haben einen sehr talentierten Kader mit spannenden, jungen Spielern, die ein großes Entwicklungspotenzial haben. Was wir erkannt haben ist, dass wir mehr Physis und defensive Stabilität gebraucht haben. Da haben wir nicht nur versucht, auf dem Transfermarkt einzuwirken, sondern auch in der Vorbereitung und den taktischen Trainings. Bislang ist es uns sehr gut gelungen, eine gute Balance zu haben zwischen Offensive und Defensive. Aber wir haben natürlich vor allem in den Offensivreihen viel Talent. Damit diese Spieler brillieren können, braucht es ein gutes Fundament."
… das Finden der richtigen Mischung im aktuellen Kader: "Wir hatten eine gute Vorbereitung, in der wir viel in diesem Bereich gearbeitet haben. Es war wichtig, ein Konstrukt zu finden, in dem sich die Innenverteidiger wohlfühlen und nicht zu große Räume zu verteidigen haben. Sie haben auch eine gewisse Stärke in der Luft. Deshalb war es uns wichtig, dass die Verteidiger in die richtigen Positionen kommen. Das ist einerseits viel Arbeit auf dem Platz, aber wir haben auch zwei, drei Spieler, die eine hohe Spielintelligenz haben wie Jonathan Tah, der das sehr gut umsetzen kann und schon viel Erfahrung mitbringt. Natürlich ist auch Lukas Hradecky als Kapitän ein ganz wertvoller Spieler für den Defensivverbund. Diese Spieler haben begonnen, gewisse Verantwortungen zu übernehmen im Bereich der Kommunikation – im Training wie auch im Spiel."
… Stümer Patrik Schick: "Patrik Schick hat tolle fußballerische Qualitäten, er ist ein Ausnahmestürmer, der Größe sowie Schnelligkeit und Technik kombiniert. Nach seiner tollen EM ist er noch mehr in den Fokus gerückt. Für mich als Trainer ist aber entscheidend, dass wir auf allen Positionen mehrere Varianten haben. Wir haben mit Lucas Alario einen richtigen "Bock-Stürmer", der schwierige Situationen ohne Raum lösen kann. Als Trainer bin ich privilegiert und habe die Qual der Wahl."
… Kampf als "neues" Element im Leverkusener Fußball: "Ich bin ein bisschen erstaunt, weil es so rüberkommt, als ob Bayer Leverkusen in den vergangenen 40 Jahren nie gekämpft hätte. So ist das überhaupt nicht! Ich glaube, dass man oft versucht hat, das auszunutzen, um pointiert darauf hinzuweisen. Aber unter den letzten Trainern habe ich oft gesehen, dass Bayer Leverkusen gekämpft hat, dass sie Zweikämpfe bestritten haben, dass sie einen guten Teamspirit haben. Es ist nicht so, dass jetzt alles goldig ist und vorher überhaupt nicht. Bayer Leverkusen hat eine tolle Geschichte und national wie international gute Resultate geholt. Hier haben fantastische Trainer gearbeitet und das sehr gut gemacht."
… einen möglichen ersten Titel für die Werkself seit 1993: "Wir wissen alle, wer den deutschen Fußball in den vergangenen Jahren dominiert hat. Unsere Aufgabe ist es, eine Mannschaft aufzubauen, die in den nächsten Jahren um etwas spielen soll – und zwar um einen Titel. Selbstverständlich sind wir ambitioniert, aber auch demütig und im Wissen, dass es ein harter Weg dorthin wird und es auch Spielglück braucht; dass man in einem DFB-Pokal-Finale im Elfmeterschießen nicht verliert oder im Halbfinale mit Glück weiterkommt. Aber selbstverständlich haben wir den Anspruch, alles daran zu setzen, mal einen Titel gewinnen zu können."
… die Tatsache, dass er in der Schweiz bereits vier Titel gewinnen konnte: "Auch das ist ein Spruch, den man gerne lanciert. Aber man sollte nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Jede Aufgabe ist eine neue. In der Schweiz hatte ich das Glück, die beste und stärkste Mannschaft zu trainieren, die von Adi Hütter vorbereitet wurde. Und einen tollen Sportchef dazu, der Young Boys auf Vordermann gebracht hat. Ich habe meinen Beitrag dazu geleistet, aber im Sport gibt es immer sehr viele Leute dahinter. Ein Trainer alleine kann nie einen Titel gewinnen. Es braucht viele Leute im Hintergrund und eine Überzeugung von allen."
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… die sechs Sprachen, die er spricht: "Sprachen helfen in allen Bereichen des Lebens. Selbstverständlich ist es auch in unserem Job von Vorteil, wenn man Spieler aus so vielen verschiedenen Ländern hat und ein Gespräch in der gleichen Sprache führen kann. Aber in der Kabine herrscht eine einheitliche Sprache, da versuchen wir bei Deutsch und Englisch zu bleiben, sodass die Spieler das Gefühl bekommen, dass wir alle in die gleiche Richtung wollen."
… das anstehende Bundesligaspitzenspiel gegen die Bayern: "Wir versuchen, das Spiel genauso anzugehen wie alle anderen, aber natürlich mit einer erhöhten Schwierigkeit, weil man bei den Bayern praktisch keinen Schwachpunkt finden kann. Während der Woche ist es das gleiche Gefühl wie vor allen anderen Spielen, aber wenn der Spieltag dann da ist, dann ist allen bewusst, dass ein Spiel gegen Bayern München oder Borussia Dortmund eine andere Gewichtung hat. Man merkt das schon die ganze Woche an der medialen Präsenz. Aber es gibt nur drei Punkte und es ist eine tolle Prüfung für uns, der wir uns stellen wollen."
… Florian Wirtz und die Frage, ob es der talentierteste junge Spieler ist, den er jemals trainiert hat: "Ja, auf jeden Fall. Vor allem, weil er sehr wenig Zeit gebraucht hat, um vom Nachwuchsspieler zum Führungsspieler auf dem Platz zu werden. Normalerweise braucht ein junger Spieler zwei bis drei Jahre, in denen man positive Ansätze sieht, wo mal was aufblitzt. Bei Florian ist es so, dass er innerhalb von zwölf Monaten die Leistung, die er als Nachwuchsspieler brachte, auch auf der großen Bühne zeigt. Die Effizienz, dass er praktisch bei jedem zweiten Tor direkt beteiligt ist, ist beeindruckend."
… der Unterschied zwischen Wirtz und anderen Talenten: "Er bringt von allem sehr viel mit. Der größte Unterschied ist, dass er unter enormen Zeitdruck immer richtig entscheidet. Die letzten Pässe oder den Abschluss bringt er immer an den Mann oder ins Tor. Diese Qualität lässt ihn auch in den Medien stehen. Was ich an seiner Persönlichkeit schätze, ist sein Ehrgeiz. Und dass er sich zu 100 Prozent in den Dienst der Mannschaft stellt. Für ihn ist es immer wichtig, dass am Schluss die Mannschaft erfolgreich ist und gut spielt. […] Florian hat eine Spielintelligenz, die er immer weiter entwickeln muss. Sein Name steht immer mehr im Fokus, die Gegenspieler werden dementsprechend auch immer mehr versuchen, ihn in Schach zu halten. Da muss er sich automatisch weiterentwickeln, neue Lösungen kreieren. Aber dazu hat er die Qualität."
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… den Hype um Wirtz: "So eine Situation ist für einen jungen Spieler eine Herausforderung. Viele Leute bei Bayer Leverkusen versuchen, ihn zu unterstützen und zu begleiten. Es prasselt viel auf so einen jungen Spieler ein. Das zu verarbeiten ist nicht so einfach. Für ihn ist es das Schönste, wenn er auf dem Platz steht, denn dann kann er sich isolieren von allem, was um ihn herum passiert. Dort hat er am meisten Spaß, und das soll er beibehalten. Denn wenn er Spaß hat, kann er seine Qualitäten in den Dienst der Mannschaft stellen."
… Wirtz im Vergleich mit anderen Talenten wie Jamal Musiala: "Ich würde keine Rangliste machen, weil ich die anderen Spieler nicht im Detail kenne. Ich beurteile die Spieler, die ich bislang trainiert habe, und so einen Spieler wie Florian habe ich bislang selten gesehen. Jemanden, der in so jungen Jahren schon so weit ist. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht Spieler mit Spielern vergleichen. Jeder spielt eine andere Position. Junge Spieler machen in ihrer Entwicklung schwierige und bessere Phasen durch. Das Wichtigste ist, dass wir uns daran erfreuen, dass Deutschland solche jungen Talente hat und wir uns besonders erfreuen, dass wir Florian bei uns haben."
… die Zukunft von Wirtz: "Er braucht noch ein bisschen Zeit. Er ist jetzt am richtigen Ort, kann sich bei uns toll entfalten, wird gut begleitet und unterstützt. Uns allen ist bewusst, dass der nächste Schritt zu einem der Top-5-Vereine irgendwann kommen wird. Aber es macht keinen Sinn, darüber zu sprechen, oder Vereine ins Spiel zu bringen. Das Wichtigste ist, dass er Freude hat und sich wohlfühlt. Und irgendwann kommt der nächste Schritt und dann wird sich jeder freuen."