Es gibt diese Sorte Fußballer, über die sagen und schreiben sie gerne: Der hat schon Sachen erlebt, die reichen für drei Karrieren. Hat der nicht langsam genug? Dann schauen sie auf den Steckbrief des Spielers und stutzen: Huch, der ist ja nicht mal 30 Jahre alt?! Aber der war doch irgendwie schon immer da, oder nicht?
Gökhan Töre gehört zu dieser Sorte Fußballer. Der ist heute schmale 29 Jahre jung. Und schon "da", seitdem der FC Chelsea 2009 bereit war, für den damals 17-jährigen Nachwuchskicker 500.000 Euro an den Ausbildungsverein Bayer Leverkusen zu bezahlen. Seitdem ist so viel in Töres (Fußballer)Leben passiert, dass sich manch einer die Augen rieb, als er für seinen Klub Besiktas gegen Borussia Dortmund in der Champions League auflief: Ist das nicht der, der damals…? Ja, wahrscheinlich ist er es.
Der Großvater als größter Halt
Töres prägende Geschichte begann schon mit einer außergewöhnlichen Kindheit. Zwei Jahre nach seiner Geburt in Köln gaben ihn seine Eltern zur Adoption frei, am Ende landete er bei seinen Großeltern, die ihn großzogen. Vor allem zu seinem Großvater baute Töre eine Beziehung auf, die ihn bis heute prägt. Er war es, der ihm den Fußball näherbrachte, mit ihm in den Park ging zum Kicken, ihn zum Training beim SV Adler Dellbrück fuhr.
Ihm hat er am Sterbebett versprochen, eines Tages für die türkische Nationalmannschaft aufzulaufen, und nicht für die deutsche. Da war sein riesiges Potential mit 14 Jahren schon nicht mehr zu verbergen. Heute ziert der Name des Opas als Tattoo den massiven Unterarm des kernigen Kraftprotzes. "Ich schulde ihm einiges", sagt Töre.
Kurz nach dem Tod seines Großvaters nahm Töre auch Abschied von seiner Heimat im Rheinland. Frank Arnesen bot ihm an, nach Chelsea zu kommen. Auch Barcelona und Valencia waren konkrete Optionen, der umworbene Teenager entschied sich aber für die Premier League und die englische Sprache. Töre trainierte und lernte bei den Blues in einer bärenstarken Mannschaft von Größen wie John Terry, Nikolas Anelka oder Didier Drogba, verbrachte auch privat Zeit mit den Stars.
Vom Blues-Talent zum HSV-Senkrechtstarter
An Selbstvertrauen mangelte es Töre nicht. Nach Florent Malouda gefragt, damals Stammspieler auf der offensiven Außenbahn, meinte er mal: „Ich bin schneller als er und technisch versierter, aber er hat viel Erfahrung und ist ein großer Spieler. Ancelotti bevorzugt Spieler mit Erfahrung.“ Das kam großkotzig daher, ganz Unrecht hatte er damit aber auch nicht. Bei Chelsea war das damals so: Arnesen war extra dafür da, um junge, internationale und entwicklungsfähige Talente an die Stamford Bridge zu holen. Damit die dort unter dem altbackenen Trainer Carlo Ancelotti, der wiederum unter Titeldruck von Roman Abramowitsch stand, keine Einsatzzeiten in der Profimannschaft bekamen.
Das musste man nicht immer verstehen. Haben auch Arnesen und Töre nicht, die zweieinhalb Jahre später, noch mit Michael Mancienne, Slobodan Rajkovic und Jeffrey Bruma im Gepäck, gemeinsam zum Hamburger SV gegangen sind. Allesamt junge Spieler mit ähnlichem Schicksal. Und obwohl Töre, mit 19 Jahren der jüngste des Quartetts, immer noch kein einziges Profispiel absolviert hatte, überzeugte der neue HSV-Sportvorstand Arnesen den Verein an der Elbe, 4,3 Millionen Euro für das Talent zu bezahlen. Mehr als für jeden anderen.
Zu diesem Zeitpunkt sprachen nur die Einsätze in der U-Nationalmannschaft und im Nachwuchsteam der Blues für Töre. Und sein Ruf als absolutes Top-Talent, das in der Türkei irgendwann mal eine neue Generation prägen sollte. Doch Hamburgs Investition hat sich ausgezahlt. In seiner ersten echten Profisaison war Töre ein Senkrechtstarter, überzeugte mit Tempo, Kraft, Energie und Überzeugung.
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Bestechung in Russland
Ein großes Talent mit bewegender Kindheitsgeschichte und einem emotionalen Versprechen, das es bei einem großen Klub nicht schafft und dann in der Bundesliga durchstartet. So weit, so normal. Mit dem Abschied nach einem Jahr aus Hamburg zum russischen Erstligisten Rubin Kazan begannen dann aber die Probleme.
Nur wenige Monate nach seiner Ankunft steckten er und sein Umfeld mitten in einem Bestechungsskandal. Mehrere Offizielle von Kazan forderten im Zuge des Sechs-Millionen-Euro-Transfers angeblich ausgehandelte Bestechungsgelder ein. Auch Trainer Kurban Berdyev wollte sein Teil vom Kuchen ausgezahlt haben. Es ging um die hohe sechsstellige Provision, die Töre-Manager Bektas Demirtas für den Transfer nach Tatarstan bekam. Diese sollte auf mehrere Köpfe aus dem Kazan-Lager aufgeteilt werden, andernfalls wäre der Transfer geplatzt. Demirtas verweigerte die Auszahlung, bekam dann aber nur einen Bruchteil der ausgehandelten Summe von Töres neuem Verein.
So weit, so kompliziert. Und nebulös. Und undurchsichtig. Die Polizei schaltete sich in dieses Schattenspiel mit einigen zwielichtigen Protagonisten ein, Töres Anwalt Georg Yablukov bat den Präsidenten von Tartastan um Hilfe, die Presse stürzte sich auf den Fall. Töre selbst hatte wenig Aktien an der Geschichte, der Druck war aber so hoch, an einen Fokus aufs Fußballspielen war nicht zu denken. Nach sieben unscheinbaren Einsätzen flüchtete er nach Istanbul und kam nicht mehr nach Russland zurück.
Schießerei in Istanbul
Nach diesem turbulenten Jahr hat Töre dann aber wieder sein sportliches Glück gefunden, als sich Besiktas und Kazan auf eine Leihe einigten, ein Jahr später auf einen Transfer, und der Stürmer wieder auf Torejagd gehen durfte. In drei Jahren kämpfte, büffelte und schoss sich Töre in die Herzen der fanatischen Besiktas-Fans. Die Krönung war die Meisterschaft 2016, sein erster Titel als Fußballprofi. Sein Marktwert war mittlerweile auf 15 Millionen Euro gestiegen und Töre schien die Hoffnungen zu erfüllen.
Wären da nicht diese Nebenkriegsplätze. Denn außerhalb des Stadions wirkt es so, als ziehe Töre die Skandale und Affären, den Krach für drei Karrieren förmlich an. Im Frühjahr 2014 wurde er in einem Istanbuler Club in eine Schießerei verwickelt, bei der er zwei Mal angeschossen wurde. Töre hatte pures Glück, dass keine Lebensgefahr bestand und er nach einer Notoperation ziemlich schnell wieder fit war. Im Rampenlicht der ganzen Nation stand er aber natürlich trotzdem wieder.
Auch hier ist die Gemengelage bis heute schattig. Ein Typ soll eines anderen Typen Frau angemacht haben, daraufhin wurde kurzerhand geschossen, sechs Menschen wurden verletzt, wie ein Wunder keiner getötet. Besiktas und Töre bestritten, dass Töre der Typ gewesen sein soll, der die Frau angemacht hat und plädierten auf "zur falschen Zeit am falschen Ort".
Die Presse glaubte das nicht. Warum wurde dann zwei Mal gezielt auf Töre geschossen? Außerdem, eine Schießerei in einem Club, Bestechungen in Russland, das passte doch alles wunderbar zu dieser kantigen Kettenhund-Attitüde, die Töre auf und neben dem Platz ausstrahlt. Ob das dem Menschen Töre gerecht wird, was spielt das schon für eine Rolle im hysterischen Boulevard und als Mensch des öffentlichen Lebens?
Bewaffneter Überfall im Teamhotel
Der Bad-Boy-Stempel auf der Stirn ist wasserfest. Und wurde nochmal nachgedrückt, als ein halbes Jahr später eine noch viel aufregendere Geschichte an die Öffentlichkeit gelangte. Die Bundesliga-Profis Hakan Calhanoglu und Ömer Toprak erzählten von einem Abend im Teamhotel der türkischen Nationalmannschaft, der schon ein ganzes Jahr her war.
Die beiden Spieler von Bayer Leverkusen verbrachten gemeinsam mit einem Freund Topraks Zeit auf dem Hotelzimmer. Als Töre das Zimmer stürmte, um besagten Freund aufzumischen. Im Schlepptau ein unbekannter Begleiter, der Calhanoglu und Toprak mit einer Pistole bedrohte. "Leg dich hin, sonst erschieß ich dich", soll er gesagt haben, wie Calhanoglu in einem dramatischen Interview im ZDF Sportstudio schilderte. Szenen wie in einem Scorsese-Film mit Robert de Niro in der Hauptrolle.
Töre rechtfertigte sich damit, dass der ominöse Freund Topraks eine Ex-Freundin von ihm missbraucht haben soll. Von einer Pistole will er nichts gewusst haben. Der Vorfall brachte das temperamentvolle und stolze Fußballland in helle Aufregung. Nationaltrainer Fatih Terim bekam ihn nicht wirklich moderiert, die türkische Auswahl versank im Chaos, teils wilde Zusammenhänge mit den verkorksten Qualifikationen für die WM 2014 und EM 2012 wurden gestrickt. Unter Terim durfte Töre noch ein paar Spiele für die Türkei bestreiten. Seit September 2016 wurde er nicht mehr nominiert.
Drei Jahre lang verletzt - oder?
Ohnehin wurde es ab 2016 ruhig um ihn. Nach der Meisterschaft mit Besiktas lieh ihn West Ham United für ein Jahr aus, dort arbeitete jetzt Slaven Bilic, mit dem Töre in seinen ersten Besiktas-Jahren erfolgreich war. Doch nach wenigen Wochen verletzte sich Töre im Training schwer am Knie. Zur Operation flog er zurück nach Istanbul, nach London kehrte er nicht mehr zurück.
Die Verletzung kostete ihn auch die gesamte nächste Saison. In der folgenden, wir sind mittlerweile im Jahr 2018/2019, machte er in der Hinrunde ein paar Kurzeinsätze für Besiktas, verkrachte sich dann aber böse mit dem Vereinspräsidenten Fikret Orman. Der unterstellte ihm Hypochondrie und Halsabschneiderei, sagte in einem Interview: "Töre wollte Geld verdienen, ohne zu spielen. Was sollen wir machen? Wir haben es respektiert."
Das ließ Töre nicht auf sich sitzen, schrieb in einem seitenlangen Social-Media-Post von Verleumdungen, amateurhaften Verhalten und von seiner ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Beobachter und Fans tappten völlig im Dunkeln, warum Töre nicht spielte, wurde nicht klar. Dann wurde noch über ausgebliebene und kommende Gehaltszahlungen gefeilscht. Der Abgang zum mittelmäßigen türkischen Erstligisten Yeni Malatyaspor war die beste Lösung für alle Parteien.
Ruhe nach der Rückkehr?
Im September 2019 endete dann die Präsidentschaft von Orman bei Besiktas. Und prompt wollte Töre, der bei Malatyaspor das erste Mal seit drei Jahren wieder regelmäßig spielte, zurück ins geliebte Istanbul. Dafür musste er sich eigens aus seinem Vertrag rauskaufen, da sich das chronisch finanzchaotische Besiktas keine Ablöse leisten konnte.
Und heute? Spielt Töre als Ergänzungsspieler für Besiktas und wurde im letzten Jahr mit dem türkischen Nationalhelden Sergen Yalcin als Trainer ziemlich sensationell Meister, dazu Pokalsieger, darf jetzt Champions League spielen. Im Sommer wurde sein Vertrag um ein Jahr mit Option auf eine weitere Spielzeit verlängert. Töre wurde neulich Vater. Es wirkt fast so, als könnte so etwas wie Ruhe in sein privates und berufliches Leben einkehren. Keine schlechte Aussicht für jemanden mit seiner Vergangenheit. Auch wenn er erst 29 Jahre alt ist.