Wenn man aus Fehlern lernt und Krisen einen nur stärker machen, dann muss Dejan Ljubicic ein enorm schlauer und kraftvoller Fußballer sein. Denn der Neuzugang des 1. FC Köln, im Sommer ablösefrei von Rapid Wien gekommen, hat einen schweren Fehler begangen und eine große persönliche Krise durchgemacht.
Es begann in einer Dezembernacht 2017, die für ihn und seinen befreundeten Fußballer-Kollegen Daniel Sudar auf der Polizeistation des winzigen Örtchens Kiseljak in Bosnien und Herzegowina, ein paar Kilometer westlich der Hauptstadt Sarajevo, endete. Der Tatvorgang, bestens aufgezeichnet von einer Sicherheitskamera: Ein Sportwagen hielt am Straßenrand, zwei junge Männer stiegen aus. Sie schauten sich um, näherten sich einem Gebäude und schleuderten mehrere Glasflaschen gegen die vor ihnen befindliche Fassade. Das Gebäude stellte sich als Moschee heraus.
Die beiden jungen Männer liefen zurück zum Auto und flüchteten. Doch noch in derselben Nacht wurden sie von der örtlichen Polizei gefasst. Schnell wurde klar, dass es sich um Ljubicic und Sudar handelte. Und genauso schnell entwickelte sich das Vergehen zu einem handfesten Skandal. Zumal aufgrund der Überwachsungsbilder kein Zweifel an der Tat und den Tätern bestand. Erste Meldungen kleinerer serbischer Nachrichtenagenturen wurden schnell in Österreich und anderen Ländern wie Deutschland und England aufgegriffen. Und Ljubicics wie auch Rapids Winterruhe war beendet.
Dejan Ljubicic - Fußball im Käfig
Es entwickelte sich ein Spießrutenlauf. Ljubicic entschuldigte sich zwar sofort, befand sich aber sofort im Auge des Shitstorms. Ein Teil der Fans forderte die Suspendierung, gar den Rauswurf. Rapid hielt aber zu ihm, bat ihn zwar zum Rapport, entschied sich aber, an Ljubicic festzuhalten und ihm eine zweite Chance zu geben.
Denn bei Rapid kannten sie ihn. Seit einem Jahrzehnt spielte er schon für die Wiener, überzeugte mit Einsatz, Willen und Loyalität. Schon mit zehn Jahren kam er in den Verein. Als Sohn bosnischer Eltern, die vor dem Krieg flüchten mussten, wurde er im Wiener Stadtteil Favoriten geboren und großgezogen. "Ich denke mit einem breiten Grinsen an die Zeit zurück“, sagte Ljubicic selbst über seine Kindheit, "wir spielten Fußball im Käfig, hatten keine Handys und sahen uns trotzdem jeden Tag.“
Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Robert, heute ebenfalls Fußballprofi, spielte er beim örtlichen Favoritner AC. Der Vater kickte ebenfalls leidenschaftlich gern, wenn auch nicht als Profi, und unterstützte seine Söhne, wo er konnte. "Von ihm habe ich auch die Einstellung, immer zu kämpfen und hart zu arbeiten“, so Ljubicic.
Vom Leihspieler zum Senkrechtstarter - die Entwicklung von Dejan Ljubicic
Mit zehn folgte dann der kurze Umzug der Familie in den Westen Wiens und der Anschluss Ljubicics an den größten und bekanntesten Verein Österreichs. Er durchlief die Jugendmannschaften, wurde U-Nationalspieler, für den ersten Einsatz bei den Profis reichte es aber noch nicht. Also lieh Rapid sein Eigengewächs für die Saison 2017/2018 in die Zweite Liga zum Wiener Neustädter SC aus. Was dem österreichischen Rekordmeister sofort auf die Füße fiel.
Während Ljubicic mit Wiener Neustadt durchstartete, sieben Spiele von Beginn an machte, davon sechs gewann, keines verlor, setzte Rapid den Saisonstart komplett in den Sand. Trainer Goran Djuricin hatte eine unausgewogene und ersatzgeschwächte Mannschaft zur Verfügung und forderte Ljubicics Rückkehr. Sein Wunsch wurde ihm erfüllt. Und mit dem eifrigen Mittelfeldmann als Stammspieler kriegten die Grün-Weißen noch in der Hinrunde die Kurve.
Tiefer Fall durch eine unerklärliche Tat
Ljubicic war der Shootingstar schlechthin in Österreich. Er spielte sich in die Herzen der Fans, stieg in Windeseile zum Publikumsliebling auf. Und fiel durch seinen unsäglichen Fehltritt in Kiseljak tief. Die Geschichte war umso erschreckender, als dass sie überhaupt nicht zu diesem aufgeschlossenen, smarten jungen Mann passte. Ljubicic gilt als bescheiden, ruhig und höflich. Er ist sehr gläubig und familiär, in Interviews präsentierte er sich besonnen und geduldig, auf dem Feld kämpferisch und entschlossen. "Die ganze Familie hat das Kämpfer-Gen“, sagte sein Ex-Trainer Djuricin mal.
Wie passen Flaschenwürfe auf eine Moschee mit so einem Charakter zusammen? Wer das Überwachungsvideo der Tat sieht, bleibt erschrocken zurück. Der Vorsatz ist klar zu erkennen, Ljubicic und Sudar scheinen sich unbeobachtet zu fühlen, die rasche Flucht wirkt abgesprochen. Und eine Moschee nicht zu erkennen, selbst in der Dunkelheit, ist kaum glaubhaft zu erklären.
Eine richtige Antwort auf diese Frage gibt es auch vier Jahre nach dem Vorfall nicht. Ljubicic bemühte sich um die Wiederherstellung seines Rufs mit Aufrichtigkeit und Reue. "Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist und kann mich nur entschuldigen und versichern, dass mir dieser Fehler sehr leidtut“, waren Teile seiner ersten Worte. Dem Iman in Kiseljak bat er persönlich um Verzeihung, für den entstandenen Schaden kam er auf, dazu eine Spende, die Strafverfolgung blieb ihm erspart. Auch bei seinem Team entschuldigte er sich umgehend.
"Ich weiß, das schaut dumm aus" - Ljubicic erklärt seinen Blackout
Das Thema bestimmte trotzdem monatelang die Schlagzeilen. Ljubicic versuchte es mit Transparenz, stellte sich der Öffentlichkeit, gab Interviews und bat wieder und wieder um Entschuldigung, redete sich dabei aber manchmal auch um Kopf und Kragen. Dem Magazin Kosmo sagte er: "Ich erinnere mich nicht, ich hatte einen kompletten Blackout und hatte mich selbst nicht mehr unter Kontrolle. Das war nicht ich und so etwas wird mir niemals wieder passieren."
Und der Kronen Zeitung auf die Frage nach dem augenscheinlichen Vorsatz: "Ich weiß, das schaut dumm aus. Wir waren auf der Suche nach einer Bäckerei, wollten noch etwas essen. Ganz ehrlich, mir war nicht bewusst, dass es eine Moschee ist. Das war einfach ein Blackout. So etwas passiert mir nie wieder."
Mittendrin in diesem Orkan stand der Verein. Einerseits wurden Spieler schon für kleinere und weniger polarisierende Vergehen suspendiert. Andererseits war in der Hinrunde absehbar, dass Ljubicic sich zum besten und wichtigsten Spieler Rapids entwickeln würde. Trainer Djuricin sprach seinem Schützling das Vertrauen aus. Und letztlich akzeptierte auch Sport-Geschäftsführer Fredy Bickel Ljubicics Wiedergutmachungskurs, beließ es bei einer Standpauke und einer internen Strafe.
Schnelle Wiedergutmachung auf dem Platz
Ljubicic durfte weitermachen. Und bediente fortan eine der ältesten Fußballfloskeln: Er gab die Antwort auf dem Platz. Rapid beendete die Saison mit seinem Mittelfeldantreiber auf dem dritten Platz und zog in der nächsten Spielzeit über zwei erfolgreichen Quali-Runden in die Europa League ein. Dort war zwar in der Zwischenrunde gegen Inter Mailand Schluss und auch die Meisterschaft verlief 2018/2019 enttäuschend mit Rang acht. Im nächsten Jahr wurde es aber wieder besser.
Erstmals seit 2016 wurde Rapid wieder Vizemeister, was für den Verein und seine frenetischen Fans hinter dem übermächtigen RB Salzburg einer gefühlten Meisterschaft nahekommt. Im Sommer 2020 ernannte der neue Coach Dietmar Kühbauer Ljubicic mit erst 23 Jahren zum Kapitän. Er wird von den Fans geschätzt, weil er sich als "echter Wiener“ gibt und die Grün-Weißen Rapid-Farben mit Stolz trägt.
Wohin er niemals wechseln würde? "Niemals zur Austria und Red Bull.“ Warum er die sperrige Rückennummer 39 behielt, obwohl er doch jetzt Kapitän sei? "Ein paar Fans haben schon vor Jahren ein Trikot mit meinem Namen gekauft. Das wäre unfair." Geschichten, die ihn zum Local Hero machten.
Mit einem Bein in Chicago
Trotzdem reiften allmählich die Wechselgedanken. Im Winter 2020/2021 wäre es fast so weit gewesen. Ljubicic machte sich auf den weiten Weg nach Chicago, um in der MLS anzuheuern. Nur um dort eine Farce zu erleben. Beim Medizincheck wurde eine Kreuzbandverletzung festgestellt. Die sich daheim in Österreich nicht bestätigte. Der Wechsel platzte. "Also musste ich zurück nach Wien und mich neu beweisen. Rückblickend war das einfach komisch", sagte Ljubicic.
Auch wenn spätestens jetzt jedem Rapidler klar geworden war, dass ihr Publikumsliebling nicht mehr lange zu halten sein wird, wurde ihm auch diese Geschichte verziehen. Schließlich scheiterten die Vertragsverhandlungen schon vor längerer Zeit, Ljubicic ging in sein letztes halbes Jahr als Rapid-Spieler. Entsprechend wurde spekuliert und gefeilscht, wohin es den wichtigsten Spieler der Hütteldorfer ziehen wird.
Quelle: Getty Images
"Ich hätte einen anderen Verein erwartet"
Dass sich der begehrte Ljubicic schon im April für den 1. FC Köln entschieden hat, hatte dann aber keiner auf dem Zettel. Weder war zu diesem Zeitpunkt klar, in welcher Liga die Geißböcke in der nächsten Saison spielen würden, noch wer sie trainieren sollte. Sinnbildlich für die wienerische Konfusion die Reaktion von Sportdirektor Zoran Barisic: "Ich hätte - so wie die meisten - einen anderen Verein erwartet. Aber das ist allein Dejans Sache.“
Ljubicic entschied sich für die Aussicht auf Spielzeit und Weiterentwicklung. In Köln arbeitet er nun für einen nicht minder emotionalen und aufgeregten Klub. Die Relegation gegen Kiel, die entschied, ob er im nächsten Jahr Erstliga- oder Zweitligaspieler sein wird, verfolgte er während der Taufe seines Kindes auf dem Handy. Die Vorbereitung zieht er mit, obwohl er unmittelbar davor in Österreich noch vier Wochen lang den Militärdienst abliefern muss.
Entsprechend schwer waren die Beine. Trotzdem brachte FC-Trainer Steffen Baumgart den neuen Mittelfeldmotor im ersten Spiel gegen Hertha BSC von Beginn an. Und Ljubicic überzeugte mit einer disziplinierten und fleißigen Leistung. Beim FC soll er Dauerläufer Ellyes Skhiri ersetzen, der im Laufe der Transferperiode wohl noch abgeworben wird. Mit seiner schlaksigen Statur und seiner Laufstärke wirkt der 1,87 Meter große Ljubicic auf dem Feld beinahe wie ein Doppelgänger.
Unter Umständen könnte sich Ljubicic sogar als Transfercoup herausstellen. Köln hat einen dynamischen und handlungsschnellen Spieler dazugewonnen. Der schon jetzt aufgrund seiner Geschichte eine Reife mitbringt, die manch anderer mit 23 Jahren noch nicht hat. Der unbegreifliche Flaschenwurf wird allerdings immer ein Teil dieser Geschichte sein. Mit Charakter, Aufrichtigkeit und Willen hat er gelernt, damit umzugehen. Ob es die erste und letzte große Krise seiner Karriere war, wird die Zukunft zeigen. Man lernt schließlich nie aus.
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