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Deniz Aytekin: "Bei jedem Spiel nur Tabletten genommen, um die Schmerzen zu ertragen"

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Deniz Aytekin: "Bei jedem Spiel nur Tabletten genommen, um die Schmerzen zu ertragen"DAZN

Inzwischen ist er das markanteste Gesicht des deutschen Schiedsrichterwesens. Deniz Aytekin gilt als einer der besten seiner Zunft, doch das war nicht immer so. An seinem Führungsstil musste er feilen. Mit Fleiß und harter Arbeit erlangte der gebürtige Franke höchsten Respekt auf und neben dem Platz.

Im Gespräch für das Talkformat Time2Charge mit Alexander Schlüter erzählt er von seinem ersten Platzverweis, dem er ausgerechnet einem späteren Weltmeister erteilte.

Außerdem verrät er, warum er sich nicht den Mund zukleben wird und was es mit seinem Spitznamen "anatolischer Faltenhund" auf sich hat.

Der 45-Jährige spricht über sein Auftreten auf dem Platz und den Umgang mit den Spielern. Zudem verrät er, dass er wegen massiver Schmerzen schon die Pfeife an den Nagel hängen wollte.

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Deniz Aytekin über …

… die Vorbereitung auf Spiele:

“Wir haben sehr viele Tools und Bewegtbildmaterial zu den Mannschaften, damit wir auch wissen, was die Teams so machen. Zum Beispiel: Wie führen sie die Standards aus, gibt es da irgendwelche Spezialitäten. Oder was passiert, wenn sie den Ball erobern oder verlieren, um das Umschaltspiel zu verstehen. Manche spielen sie sofort den langen Ball, dann bin schon nach vorne orientiert, weil ich sonst ich keine Chance hätte, mitzukommen.”

… die Kommunikation mit den Spielern auf dem Platz:

“Ich glaube, wenn man mit den Spielern spricht, sie sensibilisiert für Situationen und proaktiv ist, dann machen sie schon mal per se weniger.  Wenn man sich über die Jahre kennt und mehrere Spiele schon auf dem Platz gemeinsam bestritten hat, hat man eine gewisse Verbindung. Dann akzeptieren und respektieren sie einen. Und wenn man mal sagt, ‘du musst jetzt langsamer machen, weil ich dir nicht wegen Ballwegschießens eine Gelbe Karte zeigen will’, hat man einen gewissen Spielraum und kann diesen ansprechen.

… die Nachbereitung von Spielen:

“Wir gehen nach dem Spiel gemeinsam in die Kabine. Wenn alles gut gelaufen ist, interessieren sich wenige Menschen für uns. Die detaillierte Analyse machen wir dann zuhause. Ich schaue mir in der Nachbereitung von jedem Bundesligaspiel die wichtigsten Szenen an und auch Situationen, in denen ich auf dem Platz eine gewisse Unsicherheit hatte. Dann gleiche ich meine Wahrnehmung auf dem Platz mit den Bildern ab. Es geht bei kleinen Fouls, die man ahndet, darum, ein Gespür zu entwickeln. Beispielsweise wenn es auf einen wirkt, als hätte der Spieler den Gegner so richtig weggestoßen, doch die Bilder zeigen das dann gar nicht mehr. Da gleicht man seine Wahrnehmung ab, damit man für die nächsten Spiele ein Gespür für die Situationen hat.”

… die Erfahrung:

“Am Ende ist es wie in jedem Job. Je erfahrener du bist, je mehr Spiele du geleitet und Situationen hast, diese dann nachbereitest und abspeicherst, dann hast du das sofort abrufbereit. Du erkennst Muster und wiederkehrende Situationen, wie zum Beispiel Armeinsätze. Natürlich ist aber keine Situation eins zu eins identisch.”

… die Wahrnehmung auf dem Platz:

“Als junger Schiri beschäftigt man sich erst mit sich selber, du bist ein Stück weit unsicher und musst mit dir selbst klarkommen. Je erfahrener man wird, desto mehr Signale aus dem Umfeld nimmt man wahr. Man sieht Spielerreaktionen, Gestik, Mimik, Körpersprache. Ganz einfaches Beispiel: Wenn ein Spieler ein Tor erzielt, dann freut er sich normalerweise. Aber ein Spieler, der ein Tor erzielt und unmittelbar davor ein Handspiel oder Foulspiel gemacht hat, dessen erste Reaktion ist exakt die gleiche wie von meinem Sohn, wenn der zuhause etwas verbrochen hat: Dann guckt der erstmal zu mir und prüft, ob der Alte das gesehen hat. Spieler reagieren da auch so, dass sie innerhalb der ersten 500 Millisekunden den Blick zum Schiedsrichter suchen.”

… die OP an der Achillessehne:

“Das war über Jahre eine chronische Entzündung. Ich habe ein Jahr gehabt, als ich bei jedem Spiel nur Tabletten genommen habe, um die Schmerzen zu ertragen. Vor drei Jahren habe ich nach dem letzten Bundesliga-Spieltag gesagt, dass ich aufhöre, da ich nicht mehr gehen konnte. Jeder Schritt tat weh. Dann habe ich mich für die OP entschlossen, und es kam die Lebensfreude wieder. Die vergangene Saison war tatsächlich die erste Saison, die ich ohne Wehwehchen komplett durchgepfiffen habe.” 

Deniz Aytekin Interview Time2Charge DAZN Hyundai Emed Quote

… seinen Trainingsplan:

“Ich trainiere für mich. Die meisten Läufe habe ich am Wochenende. Am Sonntag nach einem Samstags-Spiel ist bei mir ein ganz langsames und kontrolliertes Auslaufen angesagt. Vor ein paar Wochen bin ich nach der Partie zwischen Union Berlin gegen die TSG Hoffenheim einen Halbmarathon gelaufen.”

… Atemtechniken:

“Ich versuche mit Atemtechniken zu arbeiten. Ich atme beispielsweise nur über die Nase. Wenn man 2:20 Stunden beim Joggen nur über die Nase atmet, hat das coole Effekte. Da gibt es wissenschaftliche Studien dazu, atmen durch die Nase hat einen positiven Effekt auf den Körper, dagegen durch den Mund zu atmen ist eher negativ. Deswegen gibt es Menschen, die in der Nacht den Mund abkleben. Du schläfst dadurch besser und musst weniger auf die Toilette. Ich selbst klebe aber meinen Mund nicht ab, da denkt sich sonst meine Frau, dass ich nicht alle Latten am Zaun habe.”

… seine Leidenschaft Fußball:

“Ich finde, wir dürfen den einen zentralen Gedanken nie vergessen: Wir lieben den Fußball. Ich habe selber gespielt, wäre als Spieler aber natürlich nie auf so ein Level gekommen. Aber es ist schön, dann ein Teil auf dem Niveau sein zu können und das aus nächster Nähe siehst. Wir feiern halt nicht einzelne Mannschaften oder Spieler, sondern sagen: ‘Das war ein geiles Fußballspiel’. Ich hatte das 4:4 zwischen Dortmund und Schalke. Wenn du ein Teil davon bist, kannst du es gar nicht fassen.”

… Rückschläge:

“Ich habe knapp elf Jahre gebraucht, um in die Bundesliga zu kommen. In der zweiten Saison haben mich die Spieler zum schlechtesten Schiedsrichter der Spielzeit gewählt. Das hat schon etwas mit mir gemacht, weil ich mich fragte, woran das lag. Am Ende war es nur eins: Mein Umgang mit den Spielern war nicht angemessen. Ich habe sie teilweise sehr von oben herab behandelt. Ein alter Führungsstil, sehr direktiv von oben.” 

Deni Aytekin Schiedsrichter Referee Champions League 15092021Getty Images

… Umgang und Auftreten:

“Ich bin Bülent Yildirim, einem ehemaligen Kollegen aus der Türkei, sehr dankbar. Der hat mir paar Bilder geschickt und gesagt: ‘Junge, wie gehst du denn mit den Spielern um? Du kannst doch auf einen Spieler nicht so losgehen.’ Ich bin 1,97 Meter groß, hatte damals schon viel Falten und wirkte schon sehr massiv. Deswegen nennen mich ein paar Freunde auch immer ‘anatolischer Faltenhund’. Wenn ich normal schaue, schaue ich in der Regel sehr böse, das meine ich aber gar nicht so. Ich habe mich dann selbst reflektiert und habe auch extern Hinweise erhalten, mit denen ich gearbeitet habe. Ich habe mich aber nicht vor den Spiegel gestellt und Gestiken und Mimiken geübt, sondern für mich festgelegt, welche Werte habe ich als Mensch. Und welche Werte habe ich als Schiedsrichter, als Führungskraft und als Vater und welche Werte will ich in meine Spielleitung einbringen. Das war mir sehr wichtig, dass ich diese Werte leben kann, und das versuche ich, in die Spielleitung miteinzubringen. Umgang, Wertschätzung und Respekt gegenüber anderen Menschen ist mir immer sehr, sehr wichtig.”

… die Persönlichkeitsschule Schiedsrichterwesen:

“Wenn man in jungen Jahren Schiedsrichter wird, ist das schon eine Persönlichkeitsschule. Du entwickelst Fähigkeiten, Entscheidungen zu treffen, aber auch mit Menschen umzugehen. Spieler, Trainer, Manager und Staff sind ja alles einzelne Persönlichkeiten, die du managen musst. Das ist nicht immer schön. Du hast auch Phasen, in denen du massiv eine auf die Rübe kriegst, Abneigung und Hass spürst. Du siehst es den Menschen an. Wenn du den Hass buchstäblich anfassen kannst, sind das Momente, die einen wachsen lassen. Wenn der nächste Widerstand kommt, knickst du dann nicht gleich ein – auch in anderen Lebensbereichen.”

… Wertschätzung der Zuschauer:

“Ich bin selber immer wieder bewegt. Es ist schon was Besonderes. Bei uns Schiedsrichtern ist kein Streben nach Beliebtheit da. Aber wenn du die Wertschätzung von Fans – zuletzt haben mir die Fans von Augsburg und Darmstadt beim Warmlaufen applaudiert - spürst, das ist was Besonderes für einen Schiedsrichter. Ich weiß aber, dass sich das jederzeit ändern kann. Wenn ich im Spiel mal daneben liegen, dann pfeifen die auch. Dass man sich diesen Grundrespekt über die Jahre erarbeitet hat, macht ein wenig stolz. Und gleichzeitig habe ich eine gewisse Demut vor der Aufgabe, die man nie verlieren darf, egal, wie erfolgreich man ist.”  

... Gedanken an ein Karriereende:

“Die Phasen gibt es immer wieder, in denen du dir die Frage stellst: Ist dieser Aufwand, den man betreibt mit sechs- bis achtmal Training in der Woche plus Job und Familie, es wert? Was wir in den wichtigsten Lebensjahren aufgeben, das ist schon Wahnsinn. Gerade familiär: Wie häufig ich weg war und die Kinder nicht aufwachsen sehen habe. Das sind Momente, die schmerzhaft sind, weil du weißt: Das kannst du nicht mehr einholen.“

… Abschalten nach den Spielen:

“Die ganz große Kunst ist, dass du im Kopf Feierabend hast. Das ist für viele Menschen eine große Herausforderung. Das komplette Herunterfahren und im Hier und Jetzt zu sein, ist die Königsdisziplin. Das zu finden, wo man an nichts anderes mehr denkt. Das ist eine wichtige Sache in unserer schnelllebigen Zeit. Denn die Informationen, die wir verarbeiten müssen, ist extrem. Ich für mich liebe Musik und wenn ich dann selbst Musik mache, bin ich in meiner Welt und vergesse alles um mich herum. Wenn man das Bewusstsein in den Fokus rückt mit beispielsweise Atemtechniken, das ist harte Arbeit. Je mehr du das trainierst, desto relaxter wirst du und schaffst es auch im Hier und Jetzt zu sein und tatsächlich abzuschalten.”