EXKLUSIV
Kleine Gesten haben oft eine große Bedeutung. Als sich Hakim Ziyech nach seinem entscheidenden 2:0 gegen Sheffield United im FA Cup mit der rechten Hand ruckartig über dem Mund fährt, um mit einem imaginären Reißverschluss seine Lippen zu versiegeln, ist das ein Zeichen an jeden da draußen: Lasst mich in Ruhe. Haltet alle die Klappe. Und verdammt nochmal, lasst mich mal machen.
Die Aktion ist typisch für den 28-Jährigen. Nicht weil er nicht kritikfähig wäre. Vielmehr weil er schon immer geradeaus sagt und tut, was er für richtig hält. Ohne Filter, Abwägungen oder Skrupel. Und jetzt gerade, nach seinem späten Jokertor gegen Sheffield, ist er eben sickig. Motzig. Unzufrieden mit seinen Einsatzzeiten, wie mit ihm umgegangen wird, verärgert über seine Bewertungen und mangelnde Wertschätzung.
Seit zehn Monaten trägt Ziyech nun das blaue Shirt des FC Chelsea. Und hat noch nicht den Einfluss auf sein neues Team, wie manch einer sich das von einem 40 Millionen Euro teuren Offensivspieler wünscht. Dass Ziyech vor seinem ersten Spiel für Chelsea sieben Monate lang kein Pflichtspiel bestritten hat? Dass die Vorbereitung von einer blöden Knieverletzung geprägt war? Dass Frank Lampard, immerhin Ziyechs Hauptgrund, nach London zu gehen, nicht mehr sein Trainer ist? Geschenkt. Du bringst es nicht, dann bist du es nicht.
Auch der neue Trainer setzte in den ersten Wochen nicht auf ihn. Thomas Tuchel fuhr zwar bis zum 2:5 gegen West Bromwich am vergangenen Wochenende gute Ergebnisse ein, Ziyech hatte damit aber wenig zu tun. Erst in den letzten zwei Spielen vor der Länderspielpause konnte er endlich auf sich aufmerksam machen, erzielte das wichtige 1:0 im Champions-League-Rückspiel gegen Atletico Madrid und eben die späte Entscheidung beim 2:0 gegen Sheffield. Andeutungen dafür, wie wichtig er sein kann. Und Zeichen an den Coach: Hier bin ich. Sprich mit mir. Arbeite mit mir, beziehe mich mit ein. Und ich zahle es dir zurück.
Ziyech war noch nie ein Mitläufer, der unter dem Radar fliegt. "Ich sage, was ich denke. Deswegen bin ich für manche Trainer schwierig", behauptet er einmal in der niederländischen Zeitung de Volkskrant über sich selbst. "Die schwierigen Typen setzen sich meistens durch. Die Ja-Sager schaffen es häufig nicht." Ziyech eckt an, bei Trainern, im Klub, den Fans. So hat er es aus der armen Großfamilie in die große Glamourwelt des Fußballs geschafft.
Hakim Ziyech: "Mit zehn realisierst du nicht, was der Tod bedeutet"
Geboren und aufgewachsen als kleiner dünner Junge und jüngstes von neun Kindern einer marokkanischen Einwandererfamilie in der niederländischen Kleinstadt Dronten, lernte Ziyech auf der Straße, dass sich nur der durchsetzt, der meinungsstark und selbstbewusst ist. Im Straßenfußball zwischen den Häusern muss er ständig den Tritten und Attacken der robusten, älteren Gegenspieler ausweichen. Wenn du fällst, tut es auf dem erbarmungslosen Asphalt besonders weh. Ziyech entwickelt eine Mentalität, die ihn durchhalten lässt, und eine Technik und Übersicht, von der er bis heute zehrt.
Auf den menschlichen Verlust kann ihn jedoch nichts vorbereiten. Ziyech ist zehn, als sein Vater stirbt. Er spricht seit Jahren offen über die familiäre Tragödie. Papa Ziyech ist krank, leidet unter Multiple Sklerose, raucht viel, arbeitet hart als Metallarbeiter. Um die Weihnachtstage 2003 geht es ihm schlechter und schlechter. Sein jüngster Sohn schläft in seinen letzten Momenten noch an seiner Bettkante ein, geht dann später ins eigene Zimmer. In derselben Nacht verstirbt das Familienoberhaupt. "Und dann stehst du da als zehnjähriges Kind …", schildert es Ziyech unter anderem im Algemeen Dagblad .
"Mit zehn realisierst du noch nicht, was der Tod bedeutet", rekapituliert er. Das wird erst ein paar Jahre später folgen. Also macht Ziyech weiter. Die Mutter ist nun allein mit neun Kindern, zwei fußballerisch ebenfalls talentierte Brüder kommen mit dem Gesetz in Konflikt und fliegen aus der Nachwuchsakademie. Hakim und seine Gabe sind die letzte Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Familie Ziyech.
Die Räder des ausgezeichneten niederländischen Scoutingsystems greifen und es dauert nicht lange, bis das Naturtalent in die Akademie des SC Heerenveen eintritt. "Wir mussten ihm nicht das Fußballspielen beibringen", erinnert sich sein Jugendcoach Jan de Jonge im Gespräch mit DAZN . Doch der Straßenfußballer in ihm machte sich nicht nur auf dem Platz bemerkbar: "Wir mussten ihm Dinge über das Leben beibringen."
Ziyech: "Gab einen Scheiß auf die Welt"
Spätestens als Teenager holt Ziyech der Verlust seines Vaters ein. Andere Väter stehen am Spielfeldrand, jubeln ihren Kids zu, unterstützen sie. Dem besten Spieler auf dem Feld bleiben nur die wenigen Erinnerungen daran. Er wird aufmüpfig, mürrisch, fast rebellisch. Die Gleise der schiefen Bahn sind verlegt. "Ich gab einen Scheiß auf die Welt. Ich ging nicht mehr zur Schule. Fußball interessierte mich nicht mehr. Ich war komplett verloren", erinnert er sich Jahre später.
In den Geschichten über ihn halten sich Gerüchte, Ziyech sei ins Schattendasein abgedriftet, hätte Drogen konsumiert, viel geraucht und getrunken. Wirklich stichfest sind sie nie, heute herrscht Stillschweigen darüber. "Dass Hakim der schiefen Bahn nicht folgte, war eine unglaubliche Leistung", sagt de Jonge nur. Nicht nur von Ziyech selbst, sondern auch von seinem Umfeld, wie der Jugendcoach mit Stolz erzählt: "Es war wichtig, ihm immer wieder einzutrichtern, was er erreichen kann, wenn er auf dem Rasen bleibt. Denn dort war er am besten."
"Wir haben ihm immer wieder klargemacht: Junge, du hast Gold in deinen Händen", sagt auch Hans de Jong zu DAZN , sein Trainer in der U17. Auch seine älteren Brüder waschen ihm regelmäßig den Kopf. Aziz Doufikar, erster marokkanischer Fußballprofi in den Niederlanden, heute Jugendarbeiter in Dronten und Ziyechs Ziehvater und Mentor seit dessen Kindheit, bietet ihm die gewohnt starke Schulter.
"Mein Vater ist auch vor meinem Durchbruch als Profi gestorben. Ich sagte Hakim: 'Unsere Väter gucken uns aus dem Himmel zu und wir müssen sie stolz machen. Reiß dich zusammen, mach dir keine Sorgen, leg los'", erzählte Doufikar mal im Guardian . De Jong beschreibt Ziyechs Charakter: "Er war zurückgezogen, unnahbar, introvertiert, aber immer von seiner Meinung überzeugt."
Leistungsexplosion, Kapitän und Wechsel
Zu seinem eigenen Glück ist er nicht beratungsresistent. Auf dem Weg zur Volljährigkeit findet Ziyech zurück in die Spur. "In der Zeit hat er endlich verstanden, was nötig ist, um auszubrechen. Und von da an wurde er besser und besser", sagt de Jong. Ziyech sieht Dinge auf dem Feld, die kein anderer sieht, und kann mit seiner atemberaubenden Technik jeden Raum bespielen, den er will. Mit seinen Trainern arbeitet er an seiner körperlichen Stabilität, wird explosiver, ausdauernder, stärker, ohne groß Muskelmasse aufzubauen, was für seinen Spielstil bis heute gar nicht nötig ist.
Künstler müssen keine Gewichte stemmen. Sie müssen frei sein. "Wenn du einen guten Fußballspieler hast, musst du ihn spielen lassen und nicht zu viel sagen", beschreibt de Jonge. Die typisch niederländische Schule ist für einen Trickser und Freigeist wie Ziyech das Schlaraffenland. Ohne Ball hält er sich an die wenigen Zwänge, die ihm auf der Zehnerposition auferlegt sind. Mit Ball folgt er seinem Instinkt. Und macht den Unterschied.
Sein Profidebüt gibt er mit 19 für Heerenveen, der Durchbruch gelingt ihm aber erst ein Jahr später. Er spielt noch eine Spielzeit in der U21 (unter Trainer de Jonge) und macht Heerenveen zur besten Nachwuchsmannschaft des Landes. Spätestens jetzt kommt Proficoach Marco van Basten nicht mehr an ihm vorbei. Ziyech macht fast jedes Spiel und liefert bahnbrechende 21 Scorerpunkte in seiner ersten vollständigen Profisaison.
Für Ziyech ein Jahr zu spät. Er ist nachtragend aufgrund der Herabsetzung in den Nachwuchskader in der Vorsaison. "Er hätte viel früher kommen können", denkt Ziyech rückblickend über seinen Durchbruch, "van Basten wechselte mich in der Halbzeit aus (beim Eredivisie-Debüt, 2012/2013, Anm.) und steckte mich danach in die U21, ohne Erklärung. Er sprach nicht mehr mit mir. Van Basten ist ein großer Name, aber kein Top-Trainer."
Das sagt er, als er sich innerhalb eines Jahres in seinem neuen Verein zum Kapitän gespielt hat. Nach seinem endgültigen Aufstieg zum Profi stehen die Klubs Schlange. Sein Wechsel zu Twente Enschede und nicht in die große weite Welt zeugt von Umsichtigkeit. Geht aber rückblickend nach hinten los.
Ziyech als Dickschädel - und Genie
Jahrelange Misswirtschaft beschert Twente zwar die Meisterschaft 2010 und regelmäßige Teilnahmen am Europapokal, fällt dem Verein aber ausgerechnet nach Ziyechs Ankunft auf die Füße. Die besten Spieler werden verscherbelt und durch mittelmäßige ersetzt. Und Ziyech steht plötzlich als Künstler ohne Leinwand da. Twente schneidet schlechter ab als Heerenveen. Ziyech ist frustriert.
Gegenüber de Volkstrant spricht er sich den Frust von der Seele, rechnet nicht nur mit der niederländischen Ikone van Basten ab, sondern auch mit seinem aktuellen Verein, blökt über den Rauswurf des Trainers Alfred Schreuder, zu dem er ein gutes Verhältnis hatte, lästert über Mitspieler und spricht drakonisch über seine Wechselabsichten.
Das erste Mal erkennt auch die Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit, dass da "kein einfacher Kerl", wie er selbst wiederholt betont, die Eredivisie aufmischt. Das Kapitänsamt von Enschede ist er los, sportlich führt trotzdem kein Weg an ihm vorbei. Ziyech verhindert mit genialen Assists und Toren den vollständigen Absturz, hält den Verein in seinem zweiten Jahr in der Liga, liefert beeindruckende Zahlen und sorgt mit seinem unglaublichen linken Fuß für geöffnete Kinnladen.
Wenig später bekommt er in Amsterdam endlich das konkurrenzfähige Team an die Seite gestellt, das er verdient. Unter Peter Bosz und danach Erik ten Hag steigt Ajax zum Glanz verloren geglaubter Zeiten empor. Ajax gewinnt 2019 Meisterschaft und Pokal und begeistert mit einem Sturmlauf bis ins Halbfinale der Champions League ganz Europa. Ziyech ist der wahrscheinlich beste Spieler der Eredivisie. Und bleibt sich jederzeit treu.
Van Basten über Hakim Ziyech: "Wie kann man so blöd sein?"
In Amsterdam gibt es vor allem zu Beginn Zerwürfnisse mit den eigenen Fans, weil er keinen Hehl daraus macht, dass er keine große Liebe dem Klub gegenüber empfindet. Viele Niederländer nehmen ihm auch die Entscheidung für die marokkanische Nationalmannschaft, mit der er 2018 an der Weltmeisterschaft teilnimmt, gegenüber der Elftal übel.
Van Basten wird daraufhin sogar ausfällig: "Wie kann man so blöd sein und Marokko der niederländischen Nationalmannschaft vorziehen?" Ziyech spricht von einer Entscheidung des Herzens und betont die Wertschätzung, die ihm in Marokko entgegengebracht wird: "Je besser ich spiele, desto weniger interessieren sich die Leute hier für mich. In den Niederlanden suchen die Leute immer das Negative."
All diese Geschichten sind prädestiniert dafür, Ziyech in die Ecke des Bad Boys zu stellen. Der Unruhe stiftende Bösewicht. Der Straßenjunge. Damit macht man es sich aber zu leicht. "Gute Spieler sind nie einfach", sagt de Jonge, "du brauchst deine eigene Meinung." Ziyech vertritt sie, wann immer er es für richtig hält, wird aber nie unfair. Wie ihm zugespielt wird, so kommt es zurück.
"Du musst ihn von deinem Weg überzeugen", sagt U17-Trainer de Jong, "wenn er denkt, was er tun soll, ist nicht hilfreich, bekommst du ein Problem mit ihm." Gelingt Chelsea-Coach Tuchel die Überzeugungsarbeit, hat er einen außergewöhnlichen Offensivspieler in seinen Reihen, der auch in Chelseas erstem Champions-League-Viertelfinale seit 2014 gegen Porto den Unterschied ausmachen kann. Der liefert, auch wenn es in ihm mal brodelt. Und den man selbst dann einfach mal machen lassen sollte.