EXKLUSIV
Es ist erst ein paar Jahre her, Jude Bellingham war nicht viel älter als zwölf, da bekam er eine Frage gestellt, die sich als entscheidend für seine Entwicklung als Fußballer herausstellen sollte: "Was für ein Spielertyp willst du sein?"
Gestellt wurde sie von Mike Dodds. Der ist heute einer der Leiter von Birmingham Citys Jugendakademie, damals war er Bellinghams Coach. Und diese vermeintlich harmlose Frage bekam so ein Gewicht, weil sich Dodds mit der vermeintlich harmlosen Antwort, Bellingham wolle ein Zehner sein, nicht zufriedengab.
"Ich sagte zu ihm, dass er sich damit selbst nicht gerecht wird", erinnert sich Dodds im Gespräch DAZN. "Du wirst stark sein und athletisch, du wirst gut mit dem Ball umgehen, aber auch verteidigen können. Außerdem kannst du Chancen kreieren und selbst treffen", erklärte Dodds seinem Schützling und kam zu dem Ergebnis: "Ich glaube, du könntest eine Nummer 22 sein." Eine Zehn, eine Acht und eine Vier gleichzeig, die Vier entspricht in der englischen Fußballnomenklatur der deutschen Sechs.
Und so wurde fortan analysiert. Jedes Spiel, ja sogar die Trainings: "Hat er getroffen oder Chancen kreiert? War er energiegeladen und box-to-box unterwegs? Hat er Zweikämpfe gesucht und verteidigt? War das der Fall, dann war es ein perfektes Spiel", erzählt Dodds: "Wir haben sein Spiel darauf ausgerichtet, diese Nummer 22 zu sein." Eine Nummer, die Bellingham fortan nicht nur auf seinem Rücken tragen, sondern auch in sein Spiel implementieren würde.
"Er war so gelassen, als wäre er für diese Bühne geboren worden"
Athletisch, gut am Ball, geschickt in den Zweikämpfen: Rückblickend eine treffende Vorhersage, was die heutigen Fähigkeiten und den Stil des Teenagers angeht, der im Sommer Birmingham verließ und sich für 23 Millionen Euro dem BVB anschloss.
Wobei: Wenn jemand Bellinghams Werdegang voraussagen hätte können, dann Dodds. In dessen Mannschaft kam Bellingham, als er sich mit sieben Jahren Birmingham anschloss. Und während der hochtalentierte Spieler einen steten Aufstieg bei den Blues hinlegte, veränderte sich Dodds' berufliche Situation ebenso. Auch der heute 34-Jährige übernahm immer höhere Jugendteams, sodass er und Bellingham zusammenarbeiteten, bis letzterer 16 Jahre alt war. Beinahe zehn gemeinsame Jahre also. Und: "Vergangenes Jahr habe ich am Ende der Saison auch noch kurz beim ersten Team gecoacht, ich habe also tatsächlich sein erstes und sein letztes Training bei Birmingham geleitet."
Dort, in der ersten Mannschaft des Birmingham City Football Club, aktiv in der zweiten englischen Liga, kam der damals erst seit ein paar Wochen 16-jährige Bellingham im Carabao Cup zu seinem ersten Profieinsatz, das Debüt in der Liga sollte am 5. Spieltag folgen. Bis zum Ende der Saison verpasste Bellingham in der Folge genau: drei Pflichtspiele. Ansonsten spielte der Youngster in seinen 44 Einsätzen meist sogar in der Startelf.
Dodds hatte in all den Jahren in der Jugend viele "herausragende Momente" des Mittelfeldspielers erlebt, doch war es dieser erste Einsatz bei den Profis, in dem klar wurde, was für ein Talent in Bellingham schlummert. "Er war der jüngste Spieler, der jemals für unsere erste Mannschaft gespielt hat. Und machte den Eindruck, als hätte er schon hundert Ligaspiele gemacht", schwärmt Dodds noch heute: "Er war so gelassen, als wäre er für diese Bühne geboren worden."
Bellingham entflieht dem "Zirkus" zum BVB
Doch reifte bei seinem Coach auch bald eine weitere Erkenntnis: "Als er in die erste Mannschaft gekommen ist, haben wir gewusst, dass seine Zeit bei uns begrenzt ist." Und das nicht nur, weil die Interessenten am 1,86 Meter großen Mittelfeldschlaks Schlange standen – sondern auch wegen Bellinghams unglaublichem Ehrgeiz: "Er braucht immer die nächste Herausforderung. Wenn er das nicht hat, wird er frustriert."
Mit der Hilfe seiner Eltern, die den "Zirkus" um ihren Sohn, wie Dodds es ausdrückt, herausragend managten, entschied sich Bellingham trotz wohl lukrativerer Angebote aus der Heimat für den Schritt ins Ausland: Die nächste Herausforderung sollte Borussia Dortmund heißen.
Auch dort spielte Bellinghams Alter von Beginn an keine Rolle. Der mittlerweile geschasste Trainer Lucien Favre warf Bellingham, wie schon bei seinem Jugendklub natürlich mit der Nummer 22 auf dem Rücken, auch bei seinem neuen Klub direkt in die Mannschaft. In seinem ersten Pflichtspiel, im Pokal gegen Duisburg, erzielte Bellingham sein erstes Tor im schwarzgelben Trikot. Ein paar Tage später feierte er gegen Gladbach seinen ersten Scorerpunkt in der Liga, als er Gio Reyna beim Sieg über Gladbach ein Tor auflegte.
Die Umgewöhnung von Englands zweiter Liga, nicht gerade als die filigranste der Welt verschrien, hin zur Bundesliga gelang Bellingham überragend schnell. Der 17-Jährige meisterte das höhere Tempo auf Anhieb und zeigte sofort, dass er das Talent für eine der besten Ligen der Welt mitbringt. "Man kann ihn in jedes Umfeld stecken", sagt Dodds, der zwar nach eigener Aussage nicht dazu kommt, Bellingham beim BVB intensiv zu verfolgen, aber auch nicht überrascht ist, wie das Talent seinen Weg auch dort weitergeht: "Er wird sich durchboxen".
Dortmunds Formtief trifft auch Wunderknabe Bellingham
Dass es in den zurückliegenden Wochen und Monaten etwas stiller um Bellingham geworden ist, liegt dabei nicht unbedingt am Mittelfeldmann selbst. Nach Dortmunds erster Negativserie, die Mitte Dezember in einem 1:5-Debakel gegen Aufsteiger Stuttgart gipfelte, wurde Trainer Favre entlassen, sein Co-Trainer Edin Terzic übernahm.
Die Trendwende, ein befreiender Effekt blieb zum Leidwesen aller Schwarzgelben jedoch aus. Gerade einmal die Hälfte der zwölf Pflichtspiele seit dem Trainerwechsel konnte der BVB gewinnen, in der Liga sind die Westfalen auf Platz sechs abgerutscht. Die Mannschaft sucht seit Terzic' Amtsantritt vor zwei Monaten nach Form und Spielglück, der Coach selbst händeringend nach der richtigen taktischen Formation. Und dem Personal, das dem wankelmütigen BVB endlich Stabilität verleiht.
Dass Bellingham in seinem immer noch ungewohnten neuen Umfeld, als Neuzugang, als Teenager in der aktuellen Krise keine Führungsrolle an sich reißt, ist nur logisch. Die Formschwäche der Mannschaft macht auch dem Hochbegabten zu schaffen, der zwischenzeitlich in der Hierarchie im Mittelfeldzentrum wieder abrutschte. Doch darf Bellingham aktuell wieder wichtig sein: Sowohl Terzic' Experiment mit einem alleinigen Sechser gegen Freiburg als auch die Rückbeorderung Julian Brandts neben Mittelfeldchef Thomas Delaney bleiben wohl genau das: Experimente. Und weil Axel Witsel wegen eines Achillessehnenrisses noch monatelang fehlen wird und Emre Can zuletzt den mindestens noch bis zum Wochenende nicht spielfitten Thomas Meunier als Rechtsverteidiger ersetzen muss, kann Bellingham am Mittwoch gegen Sevilla (21 Uhr im LIVESTREAM auf DAZN) wieder zeigen, was er kann.
Wenn es nach seinem langjährigen Coach Dodds geht, ist das viel. Nein, sogar: "Alles. Ich denke, er kann alles – und das sage ich nicht nur so dahin. Er hat alles, was man von einem Mittelfeldspieler verlangen kann." Neben dem Platz sei Bellingham ein "bescheidener und respektvoller Junge", auf dem Plätz gebe es "kein Limit. Er kann alles erreichen, was er will."
Und das nicht nur, weil er schier endloses Potenzial dafür hat: "Es ist die echte Liebe für den Fußball, die ihn so gut macht. "