Zwischen der Zeichentrickfigur und dem kleinen blonden Spieler des Athletic Club aus Bilbao ist eine gewisse Ähnlichkeit unzweifelhaft vorhanden. In der körperlichen Erscheinung sowieso, aber das ist nicht alles, zumindest in den Anfangsjahren von Iker Muniains Karriere: Völlig unbekümmert tritt er auf, spielt seine Streiche im Dribbling mit den Gegenspielern, aber nicht zuletzt auch neben dem Platz.
Keine Frage: Bart Simpson, der Spitzname gefällt dem Mittelfeldmann: "Ich identifiziere mich mit ihm. Guter Junge, macht aber auch gern ein bisschen Rabatz", sagt er 2011 im Interview mit der Tageszeitung El Correo. Als Muniain im selben Jahr beim Torjubel gegen Racing Santander seine personalisierten Schienbeinschoner in die Kameras hält, läuft Muniain schon seit eineinhalb Jahren für Athletic auf. Er ist trotzdem erst 19 Jahre alt geworden. Noch jung genug, dass der Scherz mit dem Schienbeinschoner passabel ankommt. Sein Comic-Held ist darauf zu sehen - in typischer Pose mit heruntergelassenen Hosen.
Ikers erster Jugendtrainer Txuma Miranda erinnert sich in der Zeitung Deia an einen schüchternen Jungen, der eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Profifußball schon sehr früh mitbringt: Iker ist voll darauf fokussiert, immer besser zu werden, ständig dazuzulernen. Das Dribbling ist bei ihm eine natürliche Gabe, mit seinem überragenden Ballgefühl verblüfft er die Beobachter schon mit fünf Jahren. Als er einmal im gegnerischen Strafraum keine Anspielstation mehr findet, überlupft er kurzerhand den Torhüter und trifft ins Netz.
Derart motiviert sei Muniain bei Spielen anfänglich zur Sache gegangen, so Miranda, dass er nach zehn Minuten völlig erschöpft war: "Wir haben ihm dann beigebracht, seine Zeit und Kraft besser einzuteilen." Trotz seiner Dribbelkünste ist Iker nicht eigensinnig, hat stets das Auge für die Mitspieler, für den entscheidenden Pass zum Kollegen, der nur noch einschieben muss.
Athletic statt Barca
Der Weg zum Athletic Club war vorgeschrieben. In seinem Jugendverein UDC Txantrea wird eine enge Zusammenarbeit mit dem baskischen Verein gepflegt: "Es hat nicht lange gedauert, bis man in Bilbao von ihm wusste", berichtet UDC-Klubpräsident José Luis Nagore. "Wenn ein Junge dabei ist, der interessant sein könnte, erfährt Athletic das immer." Iker Muniain ist damals zehn Jahre alt. In etwa zeitgleich mit dem baskischen Traditionsverein klopft auch der FC Barcelona bei seinen Eltern an.
Für die Familie ist jedoch Athletic immer die erste Option: "Uns war vollkommen klar, wohin wir wollten. Zu Athletic zu gehen statt nach Barcelona, war die richtige Entscheidung. Ich bereue absolut nichts", so Muniain einige Jahre später im Gespräch mit El Correo. Neben Barça und Athletic verfolgen laut Jugendcoach Miranda auch Real Madrid und andere europäische Klubs die Fortschritte des Talents.
Mit 13 Jahren erfolgt der erste große Karriereschritt: Iker zieht aus seiner Heimatstadt Pamplona ins Athletic-Internat nach Bilbao. Die Eingewöhnung erleichtern ihm zwei ältere Cousins, die bereits im Klub spielen, es aber nicht zu den Profis schaffen werden. Iker hingegen wird nur ein Jahr später bereits von Trainer Joaquín Caparrós zur Saisonvorbereitung mit den Profis einberufen, mit 14 Jahren.
Als sein Zimmerkollege im Trainingslager wegen eines Junioren-Länderspiels abreisen muss, nimmt ihn der sieben Jahre ältere Teamkollege Fernando Amorebieta unter die Fittiche. Damit der kleine Iker nicht allein schlafen muss, kommt er bei Amorebieta und Markel Susaeta im Zimmer unter, sie schieben ihre beiden Betten zusammen und schlafen darin zu dritt.
Amorebieta ist es auch, der Muniain mit dem gelben Querulanten aus Springfield vergleicht und ihm so seinen Spitznamen verpasst. Passend dazu die Geschichte von einer Klassenarbeit im Internat, bei der sich Iker einen Knopf ins Ohr steckt, damit man ihm von draußen die Lösungen vorsagen kann. Erwischt wird er nicht, dummerweise flüstert ihm der Kamerad aber die falschen Antworten zu und er fällt durch. Stoff, der einer frühen Simpsons-Folge würdig wäre.
Positive Respektlosigkeit
Zwei Jahre wird es nach seinem ersten Trainingslager noch dauern, bis Muniain mit zarten 16 Jahren in der Europa League gegen Young Boys Bern für die Profis debütiert. Im Hinspiel setzt es eine 0:1-Niederlage, das Rückspiel entscheidet er mit dem Treffer zum 2:1. Beim Torjubel rennt er zur Eckfahne, legt sich auf den Rücken und vergräbt das Gesicht in seinen Händen, als wolle er die Mischung aus Ungläubigkeit und Freude, die ihn überkommen haben, verstecken.
Bei den Profis kann der 1,69 Meter kleine Dribbler auch deshalb mithalten, weil er Kollegen und Älteren gegenüber eine Portion zeichentrickhafte Respektlosigkeit mitbringt, die aber nie als überheblich aufgefasst wird. Er wirkt abgeklärt für sein Alter, strahlt im Umgang mit Mitmenschen eine große Reife aus. Bei Lehrgängen der spanischen U-Nationalmannschaften mischt seinerzeit gelegentlich Fernando Hierro mit, der beim Verband beschäftigt ist. Als Hierro Iker den Ball im Trainingsspielchen abnimmt und ihn damit aufzieht, dass er wohl etwas verschlafen sei, revanchiert sich der kleine Baske, indem er den beinharten Ex-Verteidiger von Real Madrid tunnelt.
Kike Liñero, der ihn als Jugendtrainer in Bilbao betreut, erinnert sich in der Deia an ein Duell in der dritten Liga, als Iker noch in der zweiten Mannschaft von Athletic eingesetzt wird. Beim Gegner Barakaldo spielt Jon Pérez, genannt Bolo, der einige Spielzeiten für Athletic in der ersten Liga auflief. Im Mittelkreis kommt es zum ungleichen Kopfballduell zwischen dem 20 cm größeren und 18 Jahre älteren Haudegen und dem Jungspund. Iker behauptet den Ball, beide fallen dabei zu Boden. Als Iker aufsteht, klatscht er Bolo freundschaftlich auf die Wange, als wolle er ihm sagen: "Junge, nix passiert, aufstehen, weitermachen!"
Rekordjagd in Bilbao
Die Vorschusslorbeeren sind groß, der Druck dadurch nicht kleiner. "Unser Messi", so bezeichnet ihn Klublegende Joseba Etxeberria. Iker wird zum jüngsten Spieler in der Geschichte des Athletic Club, der in LaLiga debütiert, zum jüngsten Torschützen der Klubgeschichte in LaLiga und zum jüngsten Spieler, der die Marke von 300 Spielen im Athletic-Trikot erreicht. Ein Fußballerleben voller Rekorde.
Parallel dazu schwindet seine jugendliche Naivität in einer Art schweinsteigeresken Metamorphose. Die Haare sind bald nicht mehr raspelkurz, sondern lang und zum Zopf gebunden, das Antlitz behaart. Die Unbekümmertheit auf dem Feld bewahrt er sich bis heute. Die üblichen Zyklen, die Aufs und Abs, kennt Muniain nur allzu gut, von Athletic und von sich selbst.
Zu seinem Reifungsprozess haben auch zwei schwere Knieverletzungen beigetragen. Wegen des ersten Kreuzbandrisses verpasst er 2015 das Finale der Copa del Rey, in dem Athletic dem FC Barcelona unterliegt. Auch bei der erfolgreichen Revanche in der Supercopa der folgenden Saison gegen die Katalanen ist er noch außer Gefecht.
Späte Genugtuung in der Supercopa
Auch die zweite identische Verletzung 2017, diesmal im anderen Knie, wirft ihn nicht aus der Bahn, immer findet er wieder zurück in die Startelf. Im Finale der Supercopa 2021 legt er zwei entscheidende Treffer auf und trägt beim 3:2 gegen den FC Barcelona seinen Teil zum Titelgewinn bei. "Ich habe es immer vorgezogen, hier einen Titel zu gewinnen statt anderswo fünfmal die Champions League", sagt er Anfang 2021 gegenüber der Zeitung El País, wissend, dass man mit der Klub-Philosophie, nur auf in der Region geborene oder ausgebildete Spieler zu setzen, in der spanischen Liga wohl nicht mehr dauerhaft ganz oben mitspielen kann.
Es bleibt der Pokal, aber auch dort ist er innerhalb seiner Karriere bereits viermal im Endspiel gescheitert, ebenso wie im Europa-League-Finale 2012, wo unter Marcelo Bielsa der ganz große Wurf möglich gewesen wäre. Die Marke von 500 Partien im Athletic-Trikot ist in Reichweite. Kaum vorstellbar, dass er seine Karriere anderswo fortsetzt oder beendet - Titel hin oder her.
Der ewige Muniain
Bart Simpson gehört allerdings mittlerweile der Vergangenheit an: "Das war eine Zeit in meinem Leben, die schön war, aber damit identifiziere ich mich nicht mehr", setzt er in El País einen Schlussstrich. Den einen oder anderen Streich lässt er sich aber immer noch nicht nehmen. In der vergangenen Sommerpause geht eine Aufnahme von ihm viral: Muniain in einer Strandbar auf Ibiza, die Haare geflochten, lässiger Party-Look, und der Stein des Anstoßes: Er zündet sich gerade genüsslich eine Zigarre an.
Nicht das Bild, was einige Fans von ihm erwarten, nachdem im Frühjahr zwei Pokalfinals verloren wurden. Doch auch wenn ihn die Tiraden in den sozialen Netzwerken nicht kaltlassen, weiß Muniain die Reaktionen einzuordnen: "Das ist die Wut der Leute, weil wir keinen der beiden Titel gewonnen haben. Keine Ahnung, ob die jetzt meine Zigarre stört, meine Kleidung oder meine Frisur oder dass mein Auto eine bestimmte Farbe hat. Ich akzeptiere auch, dass mein Musikgeschmack nicht jedem gefällt, aber dass man mir Lektionen darüber erteilen will, was es bedeutet, diesen Klub zu vertreten oder hier die Kapitänsbinde zu tragen, das akzeptiere ich absolut nicht."
Eher nach dem Geschmack der Fans war da schon das, was die Kameras Anfang des Jahres nach dem Gewinn der Supercopa festhalten: Mit einer Spraydose in der Hand übermalt Muniain am Heck des Mannschaftsbusses die Zahl Zwei bei den gewonnenen Titeln mit einer Drei. Das Aufblitzen eines Bart-Simpson-Moments.
Für den langersehnten ersten großen Titel seit dem Double aus Meisterschaft und Pokalsieg 1984 hoffen die Athletic-Fans auf weitere Streiche. Muniain ist immer noch keine 29 Jahre alt. Ihm bleiben noch etliche Spielzeiten im rot-weißen Trikot, um weiter an seinem Legendenstatus zu arbeiten.