Lehrer oder Schüler, wen soll er aufstellen? Die Frage bereitet Andoni Iraola im Vorfeld des Duells mit Real Madrid Kopfzerbrechen. Schließlich entscheidet sich der Coach von Rayo Vallecano im LaLiga-Hinspiel gegen die Königlichen für den Schüler. Und so steht der 23-jährige Randy Nteka beim Anpfiff auf dem Rasen des altehrwürdigen, frisch renovierten Estadio Santiago Bernabeu. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Anstoßkreises, eines seiner großen Vorbilder.
Karim Benzema möchte er gern nach dem Spiel um sein Trikot bitten, sagt Randy tags zuvor der Tageszeitung El País. Von einem Trikottausch spricht Randy nicht. Die Vorstellung, dass der Weltstar an seinem Trikot interessiert sein könnte, erscheint ihm wohl abwegig. Einen Vorteil habe er ja, meint der in Paris geborene Sohn eines Angolaners und einer Kongolesin: Er könne Benzema in seiner Muttersprache darum bitten.
Rund um das Duell beim großen Nachbarn Anfang November gibt Randy viele Interviews. Dabei wirkt er bescheiden, natürlich. Ihm fehlt die Abgeklärtheit derer, die Jugendakademien durchlaufen und den Umgang mit Medien in Coachings gelernt haben. Denn er hat nie eine Akademie besucht, keine professionelle Nachwuchsarbeit genossen. Seine außergewöhnliche Geschichte wird schnell zum hot topic in den spanischen Medien. Auch sein Vorbild in den Reihen von Real Madrid dürfte spätestens jetzt, da am 26. Februar das Rückspiel in Vallecas ansteht, davon gehört haben.
Raus aus der Aussichtslosigkeit in den Banlieues
Randy wächst in der Pariser Vorstadt bei seiner Mutter auf. Die Fußballvereine wechselt er häufig: Fünf verschiedene zählt er im Gespräch mit dem französischen Magazin So Foot auf. Nirgendwo scheint es sportlich für ihn zu passen. Die höherklassigen Vereine sind alle weit weg, ein Auto hat er nicht und stundenlang mit Bus und Bahn pendeln, das ist nichts für ihn. "Fußball musste für mich immer vor meiner Haustür stattfinden", sagt er.
Trotzdem habe er immer diese Stimme im Kopf gehabt, die ihm sagte, dass er irgendwann Fußballprofi werde, den Zuständen in der Vorstadt zum Trotz. "Wenn ich rausging, hatte man nicht die Gewissheit, dass ich an einem Stück zurückkehren würde", sagt Randy im Gespräch mit der Zeitung El Mundo. Seine Mutter ist heilfroh, dass er beim Fußball Anschluss findet. Solange er mit dem Kicken beschäftigt ist, gerät er nicht auf die schiefe Bahn, da ist sie sich sicher.
Anfang 2017 jedoch bringt der Fußball ihren Filius auf eine Idee, bei der sie erstmal schlucken muss. Nach Madrid will Randy ziehen, dabei spricht er kein Wort Spanisch. Und diese Geschichte mit der Beraterin, die angeblich einen Verein für ihn hat, erscheint ihr mehr als windig. Nach dem Gespräch mit der Mutter kommen Randy Zweifel, er bittet seinen Vater um Rat. "Jetzt oder nie", habe der ihm gesagt, "Fußball ist dein Leben. Hier hast du nichts. Versuch es einfach!" Randy nimmt seinen Vater beim Wort, schiebt die mütterlichen Sorgen beiseite. Schließlich ist er volljährig, kann allein entscheiden.
Kabinen säubern für 300 Euro im Monat
In Madrid angekommen wünscht Randy sich schnell, dass er auf seine Mutter gehört hätte. Der Verein aus der vierten Liga, der angeblich an ihm interessiert ist, existiert nicht. Die vier obersten Ligen haben außerdem bereits Meldeschluss. Er kommt eine Woche zu spät – die Beraterin hatte darauf nicht hingewiesen. Nach anderthalb Wochen in der spanischen Hauptstadt will er nur noch nach Hause.
"Aber mein Vater und meine Freunde baten mich, weiterzumachen, nicht aufzugeben. In Paris hatte ich zwar nichts, aber da war doch wenigstens meine Familie", sagt Randy. Die Beraterin vermittelt ihn schließlich an Betis San Isidro – einen Fünftligisten aus dem Arbeiterviertel Carabanchel. Pablo García Rojo, der den Klub leitet, beschreibt die Qualität des jungen Zugangs als "skandalös gut". Seine Physis ist überragend, seine Ballbehandlung trotz der Größe von 1,89 Meter elegant. "Die Beraterin hat ihn betrogen, das muss man so klar sagen", sagt García Rojo im Gespräch mit DAZN.
"Wir verstehen uns als sozialer Klub. Bei uns bekommt kein Spieler ein Gehalt. Aber Randy war allein, hatte Hunger, sprach kein Wort Spanisch. Wir haben eine für unsere Verhältnisse enorme finanzielle Anstrengung unternommen, ihm Arbeit gegeben und ihn in einer WG untergebracht", erinnert sich García Rojo. "Für die Arbeit bekam er im Monat 300 Euro, das Zimmer kostete weitere 300." Randys Job: Die Kabinen saubermachen und das Sportgelände vor und nach dem Training und den Spielen öffnen und schließen.
Bei aller Erleichterung über die Chance tut er sich schwer mit der neuen Umgebung: "Es war nicht das, was ich mir erwartet hatte, aber die Leute waren sehr nett zu mir", sagt Randy. Wenn das Geld nicht reicht, stecken ihm die Klubmitglieder belegte Brötchen zu.
Der Durchbruch
Von Februar bis Juni 2017 läuft Randy für den Fünftligisten auf. Im Umgang mit den Kameraden hat er es schwer, die Sprachbarriere ist hoch, doch auf dem Platz spricht er "die universelle Sprache des Fußballs", so beschreibt es García Rojo. Viel Freizeit hat Randy, er verbringt sie vor dem Fernseher, versucht so, die Sprache zu erlernen. Auf dem Platz brilliert er als Sechser, besticht besonders durch seine Balleroberung.
Seine Chancen, von höherklassigen Vereinen entdeckt zu werden, seien dennoch gleich Null gewesen, sagt García Rojo: "Bei den Senioren in der fünften Liga scoutet kein Mensch." Der Verein ist dennoch von ihm überzeugt, meldet ihn für Probetrainings an. Eines davon ist bei der zweiten Mannschaft von Rayo Vallecano, doch dort winkt man ab. Angeblich sind keine Kaderplätze mehr frei.
Dann spielt Randy beim damaligen Drittligisten CF Fuenlabrada vor, einem Klub aus der Madrider Peripherie, aus dessen Nachwuchsschmiede Welt- und Europameister Fernando Torres hervorging. Randy kann sein Glück kaum fassen, er erhält einen Vertrag, wenn auch erstmal nur für die Reserve in der vierten Liga.
Der Klub stellt eine Dreizimmerwohnung und zahlt ihm zwischen 800 und 1000 Euro im Monat, berichtet Miguel Melgar, Sportdirektor von CF Fuenlabrada, in El País. Auch eine Klasse höher weiß Randy sofort zu überzeugen. Bereits Anfang 2018 wird er in die erste Mannschaft hochgezogen. "Wir haben seinen Vertrag insgesamt viermal nachgebessert", so Melgar. "Erst 10.000 Euro im Jahr, später 100.000." Randy wird zum Führungsspieler im zentralen Mittelfeld, anderthalb Jahre in der dritten, nach dem Aufstieg zwei weitere in der zweiten Liga. Auch ein Trainerwechsel ändert nichts an seiner Stellung in Team.
Von der Playstation ins Bernabeu
Im vergangenen Sommer schließt sich der Kreis für Randy. Der Klub, der ihn vier Jahre zuvor für seine zweite Mannschaft ablehnte, verpflichtet ihn für die Profis. Rayo Vallecano ist soeben in die erste Liga aufgestiegen. Am 13. Spieltag im Santiago Bernabeu wechselt Andoni Iraola schließlich in der 69. Minute den Lehrer ein, sein Schüler verlässt für ihn das Feld.
Der Lehrer heißt Radamel Falcao, ist 35 Jahre alt und hat in seiner Karriere in über 500 Spielen mehr als 300 Tore erzielt. Randy, der bei Rayo im Sturm statt im Mittelfeld aufgeboten wird, hat weniger Einsatzzeiten, seitdem Falcao spät zum Team stieß. "Das ist normal, er hat schließlich extrem viel Erfahrung", meint Randy. "Falcao gibt mir Ratschläge, sagt mir, dass ich fokussiert bleiben muss. Jetzt ist meine Aufgabe, von ihm und von allen anderen zu lernen."
Mit 17 Jahren habe er noch Falcao im Karrieremodus auf der Playstation gespielt, jetzt stünden sie gemeinsam auf dem Platz, sagt Randy. "Er ist ein Killer vor dem Tor. Er scheint sich nicht viel zu bewegen, aber sobald er beschleunigt, tut es weh." Den Gegnern weh tun, das kann Randy auch. Bereits dreimal hatte er in der laufenden Saison getroffen und eine Torvorlage gegeben, bevor erst eine Knöchelverletzung und dann das Coronavirus ihn Ende 2021 länger ausbremsten. Rechtzeitig zur zweiten Auflage des "kleinen Madrider Derbys" in dieser Saison ist er jedoch einsatzbereit. Im Hinspiel im Bernabéu erzielten sein Vorbild Benzema und sein Lehrer Falcao die Treffer, er selbst ging leer aus.
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Geldsegen für den Entdeckerverein
Dabei hätte Randy so gern das Wappen seines Entdeckervereins beim Jubel in die Kameras gehalten. Bei einem Interview mit dem Fernsehsender Movistar Plus überreicht man ihm ein Geschenk seiner ehemaligen Kameraden: eine Baseball-Cap von Betis San Isidro. Gerührt von der Geste verspricht Randy, sie bei einem möglichen Torjubel im Bernabéu aufzusetzen. Er weiß schließlich, wem er seinen unglaublichen Karrieresprung zu verdanken hat.
Für den bescheidenen Fünftligisten bedeutet Randys Erfolg die Aussicht auf finanziell bessere Zeiten. Viele Mitglieder konnten in der Coronakrise ihre Beiträge nicht zahlen, das riss ein großes Loch in die Klubkasse. Dennoch verlangte der Klub keine Ablöse von CF Fuenlabrada. "Unsere Kosten für Randys Gehalt und die WG hatten wir selbst gedeckt", sagt Vereinschef García Rojo. "Unser Blick geht in die Zukunft. Wir haben eine 90-jährige Tradition und wollen gern das 100-jährige Jubiläum erreichen. Wir haben uns daher von CF Fuenlabrada vertraglich 10 Prozent an einem Weiterverkauf von Randy zusichern lassen."
Die Summe werde ihm ermöglichen, Löcher zu stopfen und vor allem die Beiträge für die rund 200 Mitglieder zu senken. Derzeit ist noch unklar, wie hoch der Betrag ausfallen wird, da der Transfer zu Rayo Vallecano im Rahmen eines Tauschgeschäftes abgewickelt wurde. Fest steht jedoch bereits jetzt: Randy Nteka hat mit seinem unglaublichen Karrieresprung nicht nur sich selbst und seine Familie, sondern viele Menschen im Arbeiterviertel Carabanchel glücklich gemacht.