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Tennis, Übergewicht, Rekorde: Wie der "normal Boy" Matthijs de Ligt zum Anführer einer Generation wurde

Tennis, Übergewicht, Rekorde: Wie der "normal Boy" Matthijs de Ligt zum Anführer einer Generation wurdeDAZN
Als Kind spielte er lieber Tennis als Fußball, später hatte er mit Übergewicht zu kämpfen. Mit 17 ist Matthijs de Ligt der personifizierte Leader und stellt Rekord um Rekord auf. Die Geschichte von einem, der immer ganz normal und doch immer außergewöhnlich war.

EXKLUSIV

Abcoude ist ein eintöniges Örtchen. Alles an diesem dünn besiedelten Vorort südöstlich von Amsterdam trieft vor schnöder Normalität. Sei es die gotische Dorfkirche, die von windigen Kanälen und kalten Flüssen durchzogene Landschaft oder die kilometerlangen Radwege. Wer Aufregung und Abenteuer sucht, der profitiert immerhin vom Kleinbahnhof, der eine direkte Anbindung zur nachbarlichen Weltstadt bietet. Und von der berühmten Johan-Cruyff-Arena, die nur zehn Minuten entfernt liegt. Es ist der optimale Ort für den Beginn der Reise des Matthijs de Ligt.

Beim ansässigen FC Abcoude schnürt er sechsjährig erstmals die Fußballschuhe, wird früh von Ajax Amsterdam entdeckt, steigt mit 17 Jahren in eine außergewöhnliche Profimannschaft auf und führt den Verein als jüngster Kapitän der Klubgeschichte zur Renaissance des erfolgreichen Voetbal Totaal und zum Glanz und Ruhm verloren geglaubter Zeiten. Ungeachtet seiner Adoleszenz steigt er zum Hoffnungsträger und zur Leitfigur einer stolzen Fußballnation auf.

Dabei sind sich Experten, Wissenschaftler und ehemalige Leistungsträger eigentlich einig: Um eine Führungspersönlichkeit in einer sportlichen Gruppe zu sein, sind jahrelang konstante Höchstleistungen, gesammelte Erfahrungen und ein damit verbundenes Lebensalter die wichtigsten Merkmale. Beckenbauer, Cruyff, Zidane, Kahn, sie alle wuchsen im Laufe ihrer Karriere in ihre prägenden Rollen, mit denen sie auch Jahre nach ihrem Karriereende noch in Verbindung gebracht werden.          

Der damals 19-jährige Teenager de Ligt hat dagegen ein paar Stufen dieser Karriereleiter übersprungen. Die Führungsrolle als Startpunkt einer Karriere. Die ihn wenig später, mit seinem Transfer zu Juventus Turin, zum teuersten Verteidiger Europas gemacht hat. Um herauszufinden, wie er das geschafft hat, lohnt sich ein Blick zurück zu den Anfängen - und in das idyllische, aber schlichte Abcoude.

"Die ersten Male, die ich einen Ball berührte, flog er in alle Richtungen"

Matthijs ist ein Jahr alt, als es die Familie de Ligt aufgrund der Arbeit des Vaters aus dem Geburtsort Leiderdorp in die Nähe von Amsterdam zieht. Bruder Wouter und Schwester Fleur, heute selbst hervorragende Fußballer, werden als Zwillinge geboren, die drei Geschwister hegen auf Anhieb eine tiefe Verbundenheit, die Eltern spielen Hockey und Tennis. Abcoude bietet reichlich Platz und Natur für kindliche Erkundungstouren, Schule ist okay, mal allein im Kinderzimmer aber auch.

Vorstadtleben. Keiner in der Familie hat etwas mit Fußball am Hut. Die gleichaltrigen Mitschüler jagen den Bällen hinterher, Matthijs de Ligt spielt lieber Tennis und Brettspiele. Er ist ein freundlicher, bescheidener Junge, der keine großen Ansprüche für eine glückliche Kindheit hat und sich der Aufmerksamkeit lieber entzieht.

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Mit sechs Jahren packt es dann aber auch de Ligt. Eher zufällig begleitet er einen Freund zum Training und entdeckt seine Begeisterung für das Spiel. Er entpuppt sich zwar mehr als Grünschnabel denn als Supertalent. Wohl aber als enorm fleißig, aufnahmefähig und lernwillig. “Matthijs war sehr zurückhaltend, manchmal ein bisschen blauäugig”, erinnert sich sein Jugendtrainer Dave van Nielen in der niederländischen Zeitung AD, “einfach ein braves Kind.”

“Die ersten Male, die ich einen Ball berührte, flog er in alle Richtungen”, erinnert sich de Ligt gegenüber der Tageszeitung Het Parool selbst. Gelinde gesagt, muss sich van Nielen fußballerisch mit einer höchstens soliden Basis begnügen. Was dagegen aber sofort ins Auge fällt, ist die körperliche Überlegenheit. “Schon mit sechs war er wesentlich größer und stärker als alle anderen”, sagt Robert van der Hoef, ein weiterer Jugendcoach, der französischen Fußballzeitschrift So Foot. Sie hilft dem Verteidiger, sich auch gegen ältere Jahrgänge durchzusetzen und sich trotz seines schüchternen Charakters zu behaupten.

Beinahe wird sie ihm aber auch zum Verhängnis. Der speckige de Ligt befindet sich an der Grenze zum Übergewicht. Und Ajax Amsterdam zögert erst noch, als es in einem Spiel gegen die Abcoude-Jugend auf den mächtigen Jungen mit der Nummer 4 auf dem Rücken aufmerksam wird. Der Blondschopf rutscht zufällig ins Team des älteren Jahrgangs, ist der jüngste Spieler auf dem Feld - und der beste. Technische Defizite hat de Ligt inzwischen mit seinem Ehrgeiz und Extraeinheiten im heimischen Garten aufgelöst. Ajax zweifelt jedoch an seiner Beweglichkeit. Entscheidet sich aber ein Jahr später dennoch, ihn in die Akademie aufzunehmen.

De Ligt ist zehn, als er das erste Mal begreift, welche Möglichkeit sich ihm bietet. Das reflektierte und intelligente, beinahe frühreife Kind erkennt, dass es fortan alles dem Fußball unterordnen muss, um eine Karriere zu starten. Die Konkurrenz in der vielleicht weltbesten Jugendakademie ist groß, die Ansprüche hoch.

Er spricht nicht viel, hält erst recht keine großen Ansprachen und schaut zu den Stars von damals wie Luis Suarez auf. Er behält seine zurückhaltende Art, lebt in sich gekehrt, aber in jedem Moment fokussiert und zielorientiert. Er verinnerlicht die Ajax-DNA, saugt den Voetbal Totaal förmlich auf, liest Ajax-Bücher und lernt die Geschichte dieses großen Vereins. Und entwickelt sich auf wie neben dem Platz in rasendem Tempo weiter.

"Matthijs wusste um seine Überlegenheit"

Losgelöst von Jugendtrainer van der Hoef, wiederholt Dani Koks im Gespräch mit DAZN dessen Worte. “Matthijs war unabhängig von seinem Alter schon immer größer und stärker als die anderen Spieler,” sagt der 23-Jährige, einst ein ebenso vielversprechendes Fußballtalent, das mit de Ligt die verschiedenen Altersstufen durchlief. Sein Traum vom Profifußball blieb unerfüllt, an die Zeit mit außergewöhnlichen Mitspielern wie de Ligt, Frenkie de Jong, Danny van de Beek oder Abdelhak Nouri denkt er aber ohne Neid gerne zurück.

Die tägliche Trainingsarbeit und unweigerliche Disziplin lassen de Ligts Babyspeck schnell verschwinden, mit Hilfe des Athletiktrainers steigen Explosivität und Geschwindigkeit.  Neben der körperlichen Dominanz entwickelt er ein “tolles Passspiel und große Übersicht”, sagt Koks: “Matthijs wusste um seine Überlegenheit, und dass er besser war als die anderen. Aber er verschaffte sich dadurch keinen Vorteil, ließ sie nicht raushängen, sondern nutzte sie, um dem Team zu helfen.”

De Ligt kommandiert auf dem Platz, aber nicht streng und fordernd, sondern lehrreich und zuvorkommend, weitsichtig. Er ist kein Lautsprecher, aber umgänglich und nahbar. Durch sein kollegiales Verhalten kommt er mit jedem aus, so unscheinbar er in der Kabine auch ist. Die Bühne zur Selbstdarstellung überlässt er anderen. “Es gibt diese Spieler in der Kabine”, schildert Koks, “die wollen, dass jeder weiß, dass sie in der Kabine sind. Matthijs gehörte nicht dazu.”

Durch seinen stetigen Fortschritt und die Anerkennung des Vereins und seiner Teamkollegen wächst der Mut. Was de Ligt zum prädestinierten Ajax-Spieler macht, zum Sinnbild des auf unvermeidlichen Angriff basierenden Voetbal Totaal. “Er will immer nach vorne spielen und geht Risiken ein, mit öffnenden Pässen und einer hohen Verteidigungslinie”, beschreibt es Koks. De Ligt übernimmt die Verantwortung, von hinten heraus Verteidiger und Initiator in einer Person zu sein. “Und wenn er mal einen Fehler gemacht hat”, sagt Koks, “dann als letzter Mann und er konnte ihn selbst wieder ausbügeln.”

Das Elternhaus als Rückzugsort im heimischen Abcoude und die Nähe zu seinen Geschwistern helfen ihm, seine Normalität und Bodenständigkeit beizubehalten. “Er ist der geborene Anführer”, sagt Koks und bestätigt damit jeden Vorredner, der diese plakative, aber doch so zutreffende Aussage in den Geschichten über den Musterschüler de Ligt genauso ausführt.

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Im September 2016 stellt Profi-Cheftrainer Peter Bosz ihn dann erstmals auf, beim 5:0 im Pokal gegen Willem II erzielt er als 17-Jähriger sogar sein erstes Tor, ist seitdem nach Clarence Seedorf Ajax’ zweitjüngster Torschütze. De Ligt ist nun fester Bestandteil der ersten Mannschaft, ein Jahr später wird er der jüngste Ajax-Kapitän aller Zeiten.

Bei der Niederlage im Finale der Europa League 2017 gegen Manchester United gehört er zu den besten Spielern auf dem Feld. Weitere Rückschläge wie das verkorkste Debüt für die Nationalmannschaft, bei dem er mitschuldig war für das 0:2 gegen Bulgarien, das wiederum mitentscheidend war für die verpasste Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2018, oder das Verpassen der Champions- und Europa-League-Saison 2017/2018 werfen ihn nicht aus der Bahn. Es ist vielmehr der Vorlauf für eine fulminante Saison, in der Ajax die endgültige Rückkehr auf die europäische Fußball-Landkarte feiert.

Im Sommer 2018 ernennt Trainer Erik ten Haag den nun 19-jährigen de Ligt dauerhaft zum Mannschaftskapitän. Und mit einem sensationellen Ajax-Team startet er einen Sturmlauf durch die Champions League, der erst in einem dramatischen Halbfinale gegen Tottenham endet. Ajax übersteht die Gruppenphase mit Bayern München ungeschlagen, de Ligt steigt zum jüngsten Kapitän aller Zeiten in der K.o.-Phase der Champions League auf, in der Real Madrid und Juventus Turin in berauschender Art und Weise besiegt werden.

Gegen seinen späteren Klub Juve köpft de Ligt im ausverkauften Juventus Stadium das entscheidende 2:1-Siegtor im Rückspiel. Fußball-Europa feiert eine junge und wilde Spielergeneration aus den Niederlanden wie einst Davids, Seedorf, Overmars oder Kluivert, als die heutigen Legenden 1994/1995 beim letztmaligen Champions-League-Gewinn von Ajax die Vorreiter waren für de Ligt, de Jong und Co.

In der Heimat wird Ajax Meister und Pokalsieger. Und mittendrin steht de Ligt, autoritär und selbstbewusst, als Fels in der Brandung und auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung, die ihn zum Anführer einer Mannschaft der europäischen Spitzenklasse gemacht hat, ohne dabei das Bubenhafte in ihm zu verlieren.

Bei Juve "wie ein Kind im Süßwarenladen"

Das Entwicklungspotential bei Ajax ist ausgeschöpft. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Das Team zerfällt nach und nach, finanzstarke Teams aus ganz Europa bedienen sich am Talentpool des niederländischen Rekordmeisters. Juventus und sein Berater Mino Raiola machen de Ligt zum teuersten Verteidiger aller Zeiten.

Im neuen Team stellt sich der geborene Anführer naturgemäß zurück, geht in die Lehre bei Granden, Champions-League-Siegern, Welt- und Europameistern. Nach ein paar Monaten gibt er zu: “Als ich das erste Mal in die Umkleidekabine ging, war ich wie ein Kind im Süßwarenladen. Da ist Buffon, da ist Ronaldo… Erst nach zwei Monaten hatte ich das Gefühl, dass ich mehr ich selbst sein konnte.”

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Entsprechend vertrackt fällt der Start aus. Der Druck ist groß, de Ligt macht Fehler, ein Eigentor, hat bei vier elfmeterwürdigen Handspielen innerhalb eines kurzen Zeitraums viel Pech. Dass er nicht auf Anhieb das Spiel der Mannschaft prägt und auf seinen breiten Schultern trägt, wie er es über Jahre in Amsterdam gewohnt war, ist logisch, widerspricht aber seiner Persönlichkeit und seinem Anspruch an sich selbst.

Auch die Saison 20/21 verläuft stolprig. Im Sommer muss er an der Schulter operiert werden, fällt mehrere Monate aus, verpasst die Vorbereitung. Endlich wieder im Rhythmus, setzt ihn das Coronavirus außer Gefecht. In der Champions League scheitert die Alte Dame schon im Achtelfinale an Porto. In der Serie A heißt der Meister erstmals nach neun Jahren nicht mehr Juventus Turin. 

Trotzdem hat de Ligt auch beim italienischen Serienmeister längst eine tragende Rolle inne. In der Innenverteidigung ist er gesetzt, seine Interviews gibt er auf Italienisch. Seine Geschichte ist der Beweis, dass Alter und Erfahrung keine Voraussetzungen sein müssen, um eine Führungsrolle zu übernehmen. Und stattdessen von Leistung, Intelligenz und Persönlichkeit kompensiert werden können.

Als sich abzeichnet, dass er zum Golden Boy 2018 werden könnte, sagt er einmal in einem Interview nach einem Meisterschaftsspiel, er sei kein Golden Boy, “ich bin ein normal boy.” “Er war ein ganz normaler Kerl, mit dem jeder auskam”, sagt sein Weggefährte Koks. Seine Freiheiten als Kind und sein Umfeld machen ihn wie seine Bodenhaftigkeit bis heute dazu. Und wie das Örtchen Abcoude beweist de Ligt, dass Normalität eine Außergewöhnlichkeit sein kann.