Das Verhältnis zwischen André Silva und dem deutschen Profifußball begann mit einem Missverständnis. Damals, im Sommer 2015. Der FC Porto befand sich wieder einmal in einem Jahr des Umbruchs. Stars wie Jackson Martínez, Danilo oder Alex Sandro hatten den Verein gewinnbringend verlassen und Coach Julen Lopetegui musste auf den eigenen Nachwuchs setzen – zum Glück für André Silva und, wie man mittlerweile sagen muss, der Bundesliga. Silva war damals ein gerade 19-jähriges Talent aus der Akademie des FC Porto, das sich in der zweiten Mannschaft bereits für Höheres beworben hatte.
Zur Belohnung gab es die erste Vorbereitungsreise mit der Profimannschaft und die führte ihn ausgerechnet nach Deutschland. Genauer gesagt nach Duisburg. Stolz verkündete der junge Portugiese auf Instagram, wo sich heute Modelfotos mit gestochen scharfen Spielszenen des Neuners abwechseln, seinen damals noch wenigen Followern die Nominierung. Doch die Caption offenbarte, dass er sich weder mit dem Flecken Erde, an dem er sich befand, noch mit seinem Testspiel-Gegner, dem MSV Duisburg, besonders intensiv beschäftigt hatte: "Vorbereitung in Holland", postete Silva gemeinsam mit einem Bild beim Warmmachen und der Ortsmarke Duisburger Hochfeld.
Mittlerweile ist er in Deutschland angekommen, auch wenn es nicht verwunderlich wäre, wenn er trotzdem Duisburg nicht auf einer Karte verorten könnte. Spätestens seit André Silva in der vergangenen Saison Eintracht Frankfurt mit Acht Vorbereitungen und 28 Toren – eines mehr als der vielleicht begehrteste Spieler im Weltfußball Erling Haaland – nach Europa geschossen hat, dürften alle von seinen Fähigkeiten überzeugt worden sein. Kein Wunder also, dass Rasenball Leipzig den Stürmer unbedingt verpflichten wollte. Dank seiner Ausstiegsklausel mussten die Sachsen nur 25 Millionen Euro bezahlen. Für den zweitbesten Torjäger der Bundesliga kein schlechter Deal.
Milan zahlte 38 Millionen Euro für Andre Silva
Doch zwischen dem Testspiel in Duisburger bis an die Spitze der Bundesliga liegt ein langer Weg. Fast ein halbes Jahr musste Silva damals auf sein Pflichtspieldebüt warten, ehe er im Januar 2016 seine ersten 19 Minuten in der portugiesischen Liga auflaufen durfte. Anderthalb Jahre, 57 Einsätze und 35 Torbeteiligungen später war er es, der gewinnbringend verkauft wurde. 38 Millionen zahlte damals der AC Milan für den Stürmer, der als einer der größten Talente Europas galt.
Nun ist Silva der Stürmer, der Leipzig dabei helfen soll, die Bayern in Bedrängnis zu bringen und vielleicht den ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte zu gewinnen. Alles deutet darauf hin, dass er für den neuen Trainer Jesse Marsch eine der wichtigsten Komponenten sein wird, bei dem Versuch diese schwierige Aufgabe zu lösen. Ein Stoßstürmer. Laufstark, technisch beschlagen, mit einem Riecher für das Tor. All das, was ein Stürmer in dem pressingintensiven Spiel mit langen Bällen in die Tiefe, das Marsch wohl auch in Leipzig spielen lassen wird, benötigt, um erfolgreich zu sein.
Und doch ist dieser André Silva im Rasenball-Trikot noch ein anderer, als der, den es noch Wochen zuvor in Frankfurt zu sehen gab. Im Spiel gegen Mainz blieb Silva blass, sprintete immer wieder in imaginäre Lücken, ohne dass die ballführenden Spieler auch nur den Ansatz einer Möglichkeit gehabt hätten, ihn auf diesem Laufweg zu bedienen. Im Pokalspiel gegen Sandhausen scheiterte der bislang so treffsichere Stürmer gleich zwei Mal spektakulär.
Könnte diese Saison für Silva tatsächlich zum Problem werden? Könnte er, obwohl sein Profil perfekt nach Leipzig zu passen zu scheint, doch bei Rasenball scheitern? Der Portugiese kennt diese Situation nur zu gut: Eine Saison, in der es um alles geht, in der er zu einem neuen Verein kommt und direkt liefern muss. Dass er mit diesen Herausforderungen bislang nicht umgehen konnte, war einer der Gründe, warum der Portugiese überhaupt erst bei der Eintracht und schließlich in Leipzig landete.
Denn nach seinem millionenschweren Wechsel nach Mailand kam er nach einigen guten Spielen in der Europa League beim Saisonstart weder bei Coach Vincenzo Montella, noch bei dessen Nachfolger Gennaro Gattuso regelmäßig zum Einsatz. Nur vier Ligaspiele über 90 Minuten und zwei Tore konnte der Portugiese nach seiner ersten Saison vorweisen. Und weil die Geduld bei Topklubs für gewöhnlich nicht allzu groß ist, wurde Silva prompt nach Spanien, zum FC Sevilla, verliehen. Wieder überzeugte er zu Beginn der Saison, schoss in seinem ersten Ligaspiel gegen Rayo Vallecano drei Tore und war lange Zeit ein derart wichtiger Bestandteil, dass Trainer Joaquín Caparrós früh ankündigte, dass sein Verein die Kaufoption ziehen werde.
Silva in Sevilla: "Beleidigung für den Fußball"
Doch je länger die Saison dauerte, desto mehr verschwand er im Schatten des immer stärker werdenden Wissam Ben Yedder, desto leiser wurden die Gerüchte um einen fixen Transfer nach Spanien. Der endgültige Bruch geschah im Saisonendspurt. Silva war seit einiger Zeit an der Patellsehne verletzt, doch die portugiesische Nationalmannschaft wollte ihn trotzdem für die Nations League nominieren – und Silva erklärte öffentlich, dass er gerne für Portugal auflaufen würde und besiegelte somit sein Ende beim FC Sevilla. Casparró sprach von einer "Beleidigung für den Fußball", sollte Silva für Portugal auflaufen und schmiss den Stürmer wenig später aus dem Kader. Jegliche Chance auf einen Verbleib bei Sevilla war dahin. Auch Milan hatte das Vertrauen in den Stürmer verloren und schickte ihn zusammen mit einigen Millionen für Ante Rebić nach Frankfurt.
Wieder ein Neuanfang. Der vierte Verein in vier Jahren. Für den damals 23-Jährigen keine einfache Situation. Und tatsächlich schien sich die Geschichte in Frankfurt zu wiederholen. Wieder startete Silva hervorragend, wieder brach seine Leistung nach den ersten Monaten ein. Zwischen Oktober und März gelangen ihm nur zwei Ligatreffer. Doch in Frankfurt hatte man Geduld, vertraute auf die Fähigkeiten des Stürmers – und wurde belohnt. Nach der Coronapause kam er wie verändert zurück, acht Tore in den verbleibenden zehn Spielen. In der Saison darauf bewies er zum ersten Mal, warum Cristiano Ronaldo einst über seinen Nationalmannschaftskollegen gesagt hatte, dass er sich vor seinem Karriereende nicht fürchte, weil die Seleção sich bei Silva in guten Händen befinde.
28 Tore in 32 Spielen, alle 77 Minuten eine Torbeteiligung. Und beobachtet man Silva, so gibt es tatsächlich einiges, was an CR7 erinnert. Wie Silva den Ball führt, mit hohem Tempo eng am Fuß, wie er währenddessen die Arme weit von sich steckt um sie bei jedem Haken, bei jeder Körpertäuschung einzusetzen, um schnell das Gleichgewicht wiederzufinden. Wie er beim Sprint die Brust herausstreckt und den Kopf nach hinten wirft. Die staksigen Schritte und die körperliche Robustheit, mit der er gegnerische Tacklings abprallen lässt.
Doch ob Silva diese Geduld auch in Leipzig erwarten darf, wird sich noch zeigen. Jesse Marsch weiß um die Wichtigkeit seines neuen Stürmers. Nicht umsonst betont er regelmäßig, wie viel er von Silva hält und hatte mehrfach seinen Urlaub unterbrochen, um Silva persönlich davon zu überzeugen, dass ein Wechsel nach Leipzig der richtige Karriereschritt für ihn sein wird. Doch was passiert, wenn Silva mal in ein Loch fällt, wenn die Resultate der Mannschaft nicht stimmen und der Nachfolger von Julian Nagelsmann um seinen Job bangen muss? Was passiert, wenn plötzlich einer der vielen Leipziger Stürmer bessere Leistung als Silva bringt und er sich auf der Bank wiederfindet. Wie ungeduldig Rasenball mit seinen Stürmern umgeht, sieht man auch im Moment. Alexander Sørloth war vergangene Saison für gut 20 Millionen von Crystal Palace gekommen. 5 Tore in 29 Spielen waren nicht genug für die hohen Ansprüche der Leipziger und so suchen sie seit Silvas Ankunft nach einem passenden Angebot für den jungen Norweger.
Doch diese Risiken gehören zum Profifußball. Ein Spieler, der in einer Saison 28 Tore schießt und damit zweifelsohne zu den besten Stürmern der Bundesliga gehört, sollte sich in einer offensiv ausgerichteten Mannschaft gut zurechtfinden. Und auch wenn Silva vielleicht nicht den besten Start in seinen ersten beiden Spielen hingelegt hat, so konnte man doch sehr gut beobachten, warum Jesse Marsch den Portugiesen unbedingt in seiner Mannschaft haben wollte. Auch an den vergebenen Großchancen. Denn die Art, wie herausgespielt waren, sind genau die Eigenschaften, die zu Marschs Spiel passen: Die erste durch einen hervorragend getimten Lauf in die Spitze, die zweite durch gutes Umschalten nach einer Pressing-Situation. Und auch abseits seiner beiden vergebenen Großchancen beteiligte sich Silva rege am Spiel, war anspielbar, kombinierte gut und bereitete sehenswert das 3:0 vor. Die Wahrscheinlichkeit ist jedenfalls hoch, dass er schon bald seinen Weg zum Tor finden wird. Denn wo sich das befindet, weiß Silva deutlich genauer als den Standort von Duisburg.